© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Elefanten werden entlarvt
Die Schweigespirale büßt allmählich ihre Wirkung ein: Zum hundertsten Geburtstag der Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann
Thorsten Hinz

Der Name Elisabeth Noelle-Neumann ist bis heute gleichbedeutend mit „Allensbach“. Der idyllische Ort im Südwesten steht metonymisch für das 1948 von ihr gegründete Institut für Demoskopie. Niemand hat die Seelenlage der Deutschen auf empirisch-analytischer Basis so genau erfaßt wie die „Pythia vom Bodensee“. Zum fachlichen Handwerk im engeren Sinne trugen ihre enorme Welt- und Menschenkenntnis, die kulturelle und historische Bildung sowie eine erhebliche Skepsis gegenüber politischen Moden bei.

In dem 1987 erschienenen Buch „Die verletzte Nation“, in dem sie (gemeinsam mit Renate Köcher) anhand von Tabellen und Statistiken die Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs und des Zusammenbruchs 1945 auf das Befinden der (Bundes-)Deutschen analysiert, zitiert sie ausführlich den Klassiker der Madame de Staël „Über Deutschland“ . Die Französin hatte 1813 den Deutschen bescheinigt, sich mehr „für abstrakte Ideen als für die Interessen des wirklichen Lebens zu begeistern“. Ihre außergewöhnliche Gedankenkühnheit ginge mit Unterwürfigkeit einher, die sie überdies als Ausdruck guten Benehmens empfänden. Politisch waren sie in ihren Augen ein nahezu hoffnungsloser Fall. 

Noelle-Neumann knüpft daran die Fragen, ob uns dieses Bild nicht eigentümlich vertraut sei und die Kontinuitäten im Wesen der Deutschen nicht viel beständiger seien und weiter zurückreichten als angenommen. Weitere dreißig Jahre später und eingedenk der Willkommens-Exzesse vom Sommer 2015 erscheinen sowohl die Schilderungen der Madame de Staël als auch die rhetorischen Fragen Noelle-Neumanns von ungebrochener Aktualität.

Elisabeth Noelle-Neumann wurde 1916 in einer gutbürgerlichen Familie in Berlin geboren. Sie studierte Philosophie, Geschichte, Zeitungswissenschaft und Amerikanistik. 1937 kam sie für ein Jahr als Stipendiatin in die USA, an die University of Missouri, wo sie die in Europa noch wenig bekannte Meinungsforschung kennenlernte und umgehend deren Potential erkannte. „Amerikanische Massenbefragungen über Politik und Presse“, lautete der Titel ihrer 1940 angenommenen Dissertation.

Das Besondere an Noelle-Neumann ist ihre Wirkung über das Tagesgeschäft hinaus. Ihre Theorie der „Schweigespirale“, die sie 1980 publizierte, hat eine schlüssige Erklärung über die Kluft zwischen inoffizieller und öffentlicher Meinung und deren Entstehung geliefert. Ausgangspunkt ist die Furcht der Menschen vor gesellschaftlicher Isolation. Sie registrieren das Verhalten ihrer Umwelt und die Meinungen, die in der Öffentlichkeit gebilligt werden oder nicht. Wer spürt, daß er mit seiner Meinung auf Ablehnung stößt, hält sich mit Äußerungen zurück, während die Vertreter der Mehrheitsmeinung sich ermutigt fühlen und diese desto offensiver und lauter vertreten. Die Demonstration ihrer Überlegenheit stellt eine Isolationsdrohung an die Inhaber der Gegenposition dar, was deren Furcht verstärkt. Aus dem Gefühl heraus, mit ihrer Meinung alleine zu stehen, treten sie den Rückzug an. Es handelt sich um einen spiralartigen Prozeß, in dessen Verlauf die eine Seite immer lauter wird und die andere immer mehr verstummt. Vor allem bei kontroversen und moralisch aufgeladenen Themen läßt dieser Prozeß sich beobachten.

Die in der Öffentlichkeit vorherrschende Meinung wird nicht zwangsläufig vom numerisch stärkeren Meinungslager bestimmt. Eine Meinung kann auch dominierend wirken, obwohl die Mehrheit einer anderen Auffassung anhängt. Entscheidend ist, daß sie sich dazu öffentlich nicht zu bekennen wagt. An diesem Punkt wird die zentrale Rolle der Massenmedien deutlich, die einen erheblichen, wahrscheinlich den ausschlaggebenden Einfluß auf die Richtung der Schweigespirale nehmen. Durch die Forcierung oder Unterdrückung einer Auffassung können sie durchaus die numerische Mehrheit in die Defensive versetzen. Jedenfalls sei kein Beispiel bekannt, wo die Schweigespirale jemals ihre Richtung gegen den Medientenor genommen hätte. Die Großmedien nannte Noelle-Neumann „getarnte Elefanten“, weil sie sich selber attestieren, nur wenig in der Meinungsbildung ausrichten zu können, um, derart getarnt, ihren Einfluß zu maximieren.

Bekanntlich stehen die bundesdeutschen Journalisten in ihrer überwältigenden Mehrheit den Grünen oder der SPD nahe. Die von ihnen in Gang gehaltene „Schweigespirale“ erklärt wiederum, warum dieses Übergewicht lange Zeit kaum problematisiert wurde und jedenfalls keine Folgen hatte.

Noelle-Neumann hat ein scharfes analytisches Instrument geschaffen, mit dem ein zentrales gesellschaftliches Phänomen durchschaubar gemacht und entmystifiziert werden kann. Die Inhaber der medialen Hegemonie erkannten umgehend die potentielle Gefahr. Schon seit Mitte der siebziger Jahre war Noelle-Neumann in vielen Medien zur Persona non grata geworden. 2013, drei Jahre nach ihrem Tod, versuchte der linke Politikwissenschaftler Jörg Becker, ihren Ruf mit der umfangreichen Kampfschrift „Elisabeth Noelle-Neumann. Demoskopin zwischen NS-Ideologie und Konservatismus“ in Grund und Boden zu stampfen. Die Delinquentin sei nicht nur „national-konservativ, deutschvölkisch, antiparlamentarisch, ständestaatlich, antisemitisch und (...) einem autoritären Führer-Gefolgschafts-Denken verhaftet“, sie sei auch als Wissenschaftlerin völlig überschätzt. Das Buch wurde in etlichen  Medien als Offenbarung begrüßt, andere bezweifelten immerhin seine Seriosität. Die JUNGE FREIHEIT betitelte ihren Verriß: „Die Infamie bleibt konstant“. (JF 27/13)

Die Infamie war allerdings noch weitaus größer, als man bei der Abfassung der Rezension ahnen konnte. So hatte Becker unter Berufung auf das Gutachten eines amerikanischen Wissenschaftlers behauptet, Noelle-Neumann hätte ihren Entnazifizierungbescheid gefälscht. Nur wußte der besagte Wissenschaftler von keinem Gutachten. Eine andere Behauptung lautete, ihre Dissertation hätte sich exklusiv auf eine Pressemappe des Auswärtigen Amtes gestützt, die ihr das

Goebbels-Ministerium zur Verfügung gestellt hatte. Es stellte sich heraus, daß der Autor über keinerlei Belege dafür verfügte, daß Noelle-Neumann die Mappe überhaupt je zu Gesicht bekommen hatte.

Der Verlag hat das Buch längst aus dem Verkehr gezogen, die Zeitungen haben ihre positiven Rezensionen aus den elektronischen Archiven genommen, und der Autor hat bündelweise Unterlassungserklärungen abgeben müssen, zuletzt im März 2016. Dennoch ist der Wikipedia-Eintrag zu Noelle-Neumann nach wie vor voller Andeutungen und Unterstellungen. Wikipedia ist ein „getarnter Elefant“ neuen Typus.

Ältere Elefanten indessen wurden entlarvt und sind auf das Format von Schakalen und Hyänen geschrumpft. Noelle-Neumanns Theorie der Schweigespirale erhält in dem Moment ihre schlagende Bestätigung, in dem dieses Phänomen seine Wirkung allmählich einbüßt, weil die sozialen Netzwerke angefangen haben, es außer Kraft zu setzen. Zuletzt mußte sogar die ARD sich beugen und die Berichterstattung über Gewaltverbrechen sogenannter Schutzsuchender der Realität anpassen. Allerdings sind Bemühungen im Gange, den Einschüchterungsmechanismus auf neue Weise flottzumachen. Dazu gehören Maßnahmen gegen die „Haßsprache“im Internet, zu der de facto alles zählt, was dem politisch-medialen Komplex zuwiderläuft.

Eine Umfrage aus dem Jahr 1985 über die Belastung durch den Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg, die Elisabeth Noelle-Neumann in der „Verletzten Nation“ referiert, ergab, daß von den damals unter 30jährigen 33 Prozent bekundeten, sie fühlten sich „stark“ belastet, hingegen 63 Prozent, „es belastet mich kaum oder gar nicht“. Das ließ auf einen generativen Lern- und Reifeprozeß hoffen, der von einem  emotionalisierten und romantischen zu einem realistischen und versachlichten Politikbegriff führte. Die intensivierte Vergangenheitsbewältigung seither hat den Prozeß blockiert.

Die Förderstiftung Konservative Bildung und Forschung verlieh Noelle-Neumann 2006 den Gerhard-Löwenthal-Ehrenpreis. Die Reise vom Bodensee nach Berlin anzutreten, war die 90jährige leider nicht mehr imstande.