© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 51/16 / 16. Dezember 2016

Verhängnisvolle Unterscheidungen
Die „Judenzählung“ im deutschen Heer 1916 sollte antisemitischen Verschwörungen vorbeugen und erreichte eher das Gegenteil
Günther Deschner

Fremdheit, Ausgrenzung, Verfolgung, Vertreibung, Haß und Mord. Das sind die wesentlichen Facetten, die noch heute, mehr als siebzig Jahre nach dem Ende des Dritten Reichs, das Bild bestimmen, das nachgeborenen Generationen über das deutsch-jüdische Verhältnis vermittelt worden ist und wird. Weniger bekannt ist, daß es auch eine fruchtbare deutsch-jüdische Symbiose gab, die mehr als ein langes Jahrhundert angehalten und beiden Seiten zum Nutzen gereicht hat – in Preußen, im wilhelminischen Kaiserreich, auch noch in der Weimarer Republik – und sogar noch in herausragenden Einzelfällen nach 1945 in der Bundesrepublik. Dabei waren Deutsche und Juden, christliche Deutsche und jüdische Deutsche, in den vielen Einigungsversuchen unserer Geschichte, beim immer wieder aufgegebenen Kampf um Einheit, Freiheit, Größe und Bestand häufiger Partner als Gegner. Das gilt für das ganze 19. Jahrhundert und für das zwanzigste bis zum Dritten Reich. 

Einschnitt in der Geschichte des Antisemitismus

Bereits bei der Ausprägung eines deutschen Nationalbewußtseins zu Beginn des 19. Jahrhunderts, danach in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, im Kampf für Freiheit und Einheit in der Revolution von 1848, bei der Reichsgründung von 1871, im Ersten Weltkrieg, beim Aufbau der Weimarer Republik, und selbst noch zum Wiederbeginn deutscher Staatlichkeit nach 1945 – stets waren auch Juden maßgeblich an der Gestaltung und Sicherung des deutschen Nationalstaats beteiligt. Weder von deutschen Antisemiten noch von Juden mit anderer Gesinnung ließen sich diese deutsch-jüdischen Patrioten beirren. Für sie galt Walther Rathenaus Bekenntnis: „Mein Volk ist das deutsche Volk, meine Heimat das deutsche Land.“ Diesem Vaterland blieben sie treu, manche bis zur Selbstverleugnung.

Die „Judenzählung“ im Ersten Weltkrieg markierte, wie oft betont worden ist, einen Einschnitt in der Geschichte des Antisemitismus in Deutschland. Die Zählung der Angehörigen jüdischer Konfession im Heeresdienst war Ende 1916 mit der Begründung durchgeführt worden, es sollten die sich häufenden Vorwürfe der „Drückebergerei“ überprüft werden, die beim preußischen Kriegsministerium eingegangen waren. Es war dies ein eklatanter Verstoß gegen das Gleichbehandlungsprinzip und wurde von den Betroffenen zu Recht als schwerer Affront begriffen. Daß die Ergebnisse der Erhebung nie veröffentlicht wurden, nährte noch weiter den Verdacht. 

Nach Kriegsende gelangten bald, lanciert von antisemitischer Seite, Zahlen an die Öffentlichkeit, die – irreführend, wie sie waren – eine vergiftende Wirkung auf das Verhältnis zu den deutschen Juden entfalteten. Daß schon seit 1915 von seiten der jüdischen Organisationen eine eigene Statistik der Kriegsteilnehmer geführt und auf die antisemitischen Vorwürfe mit Gegenschriften und -statistiken geantwortet wurde, konnte dagegen wenig ausrichten. Nach 1918 war der Streit um die jüdische Kriegsbeteiligung ein wesentlicher Bestandteil des Kampfes um die Deutungshoheit in der Frage, wer die Schuld an der Niederlage trage („Dolchstoßlegende“), wer in das ehrende Gedenken an die Opfer des Krieges einzubeziehen war und wem damit letztlich eine Teilhabe an der residualen Sinnstiftungskraft des Krieges zuerkannt werden sollte und wem nicht.

Das diplomatisch-behutsame Vorgehen, das die Vertreter der jüdischen Organisationen bei ihrem Protest gegen die Zählung wählten, halten manche Historiker für zu „samtpfötig“ und in der Rückschau auch für weniger angemessen als die zeitgenössische Drohung des reichen jüdischen Bürgertums in Frankfurt am Main, sich künftig bei Sammlungen und Kriegsanleihen „zurückzuhalten“. In der Weimarer Republik bildete das „Gedenkbuch“ des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten von 1932 mit seinen 11.000 aufgelisteten Gefallenen jüdischer Herkunft den Endpunkt der jüdischen Gegenwehr, der stets aus der Defensive heraus geführt werden mußte.

Kristallisationspunkt der Entfremdung

Eines der übergeordneten Themen, in das sich die „Judenzählung“ einordnen läßt, ist das Problem der Diskriminierung jüdischer Soldaten in der deutschen Armee, das pars pro toto wiederum für die Ungleichbehandlung jüdischer Bürger in zahlreichen anderen Lebensbereichen genommen werden kann. Von einigen Autoren wird die „Judenstatistik“ geradezu als präventiver Akt gedeutet, um einem von seiten des preußischen Offiziersstands nicht gewollten und bisher auch noch immer erfolgreich verhinderten Eintritt von Juden in das Offizierskorps nach Kriegsende vorzubeugen. In der Tat waren im Berufsheer der Weimarer Republik Juden noch weniger gelitten als zuvor. 

Drei Befunde werden insgesamt besonders herausgestrichen. Erstens: Die „Judenzählung“ war international ein singulärer Akt. Zweitens: Sie besaß tiefgreifende Nachwirkungen auch in den Jahren der Weimarer Republik. Drittens: Sie kann deshalb nicht als unglücklicher Zwischenfall, sondern muß als Scheidelinie begriffen werden. Anders als Werner T. Angress, der die „Judenzählung“ mehr als Symptom verstanden hat, in dem der schon bestehende Antisemitismus einen eher episodischen Ausdruck fand, sieht das Gros der Historiker in ihr weit über den Weltkrieg hinaus einen fortwährenden Kristallisationspunkt der Entfremdung zwischen Juden und Deutschen und ein Menetekel für die Zeit nach 1933.