© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Nicht länger den Mund halten
AfD Baden-Württemberg: Der öffentlichkeitswirksame Austritt der Abgeordneten Claudia Martin sorgt für neue Aufregung in der Fraktion
Christian Vollradt

Nein, als ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk sei ihr Austritt aus Partei und Fraktion nicht zu verstehen, beteuert Claudia Martin. Sie habe lange das Für und Wider eines Austritts abgewogen, gesteht Martin im Gespräch mit der JUNGEN FREIHEIT. Als Gründe für ihren Schritt hatte sie zuvor in einer Pressekonferenz das fehlende Interesse an Sachpolitik, die starke Tendenz zu rechtsextremen Auffassungen innerhalb der Fraktion und die ständige Skandalisierung des Asylthemas genannt. 

Fraktion fordert den       Verzicht auf das Mandat

Die Fraktion sei in zwei Lager geteilt, so Martin. Ein Teil der Abgeordneten wolle über die Arbeit im Parlament schrittweise Verbesserungen erzielen; dies entspreche auch ihren Vorstellungen. Andere AfD-Abgeordnete setzten dagegen auf Fundamentalopposition. „Der größte Fehler war die Wiedervereinigung der zwei Fraktionen“, resümiert die Abgeordnete im Rückblick auf die Situation im Sommer und Herbst dieses Jahres (JF 39/16). Der Graben sei nur notdürftig zugekleistert worden, die Konflikte nur zugedeckt und nicht geklärt, kritisiert sie. „Dabei wäre eine echte Klärung dringend notwendig gewesen.“ Martin gehörte zu denen, die den Kurs von Jörg Meuthen in der „Affäre Gedeon“ (JF 24/16) am deutlichsten unterstützt und mit ihm die Fraktion Alternative für Baden-Württemberg gebildet hatten.

Aber der Druck aus der Partei, wieder eine Fraktion zu bilden, sei einfach zu groß gewesen, meint die 46jährige Politikerin. „Die Wähler wollen eben keine zerstrittene Partei.“ Und auch Meuthen, so die Einschätzung seiner ehemaligen Mitstreiterin, setze zu sehr auf Harmonie und zuwenig auf Führung. Daß man nach außen geschlossen auftrete, sei ja vernünftig. „Aber dann müssen die Streitpunkte intern offen zur Sprache gebracht werden dürfen, und das war nicht der Fall“, wirft sie ihren ehemaligen Kollegen vor.  

Der so gescholtene Fraktionschef bezeichnete Martins Vorwürfe als „pure Heuchelei“. Es sei „offenkundig, daß Frau Martin mit der parlamentarischen Arbeit insgesamt überfordert war, falsche Vorstellungen dazu hatte und überdies nicht konsensfähig war“, ließ Meuthen in einer  Pressemittteilung verbreiten. Und der AfD-Bundessprecher wird in dem Schreiben noch deutlicher: Zur politischen Arbeit gehörten „sowohl Fleiß als auch Kompromißfähigkeit; beides hat Frau Martin vermissen lassen.“ Daß sie der AfD nun Rechtspopulismus vorwerfe, „grenzt an Realsatire“, meinte Meuthen. „Womöglich wäre es besser gewesen, wenn Frau Martin gleich für eine der linkspopulistischen Kartellparteien kandidiert hätte.“ Offenkundig sei es der der ehemaligen Parteifreundin nur um „billige 15 Minuten Ruhm“ gegangen. 

Die Fraktion forderte Martin auf, sie solle ihr Mandat unverzüglich niederlegen. „Sie hat dieses Amt mit Hilfe des AfD-Programms errungen, das sie nun plötzlich als rechtspopulistisch bezeichnet. Tut sie dies nicht, hintergeht sie ihre Wähler, die sie als AfD-Abgeordnete im Parlament sehen wollten und nicht als kostspielige Diätenbezieherin auf der parlamentarischen Hinterbank“, kritisierte Meuthen, der vom öffentlichkeitswirksamen Ausscheiden offenbar völlig überrascht worden war.

Das wiederum kann Claudia Martin nicht nachvollziehen: „Ich habe immer wieder deutlich gemacht, daß ich unzufrieden bin. Und ich habe angekündigt, daß ich nicht mehr länger den Mund halten werde“, betont sie gegenüber der jungen freiheit. Daß sie nun ein Buch über ihre Erfahrungen mit und in der Partei veröffentlichten werde, habe nichts mit der Gier nach Aufmerksamkeit zu tun, sondern nur einen Grund: „Ich muß mir das von der Seele schreiben“, bekennt die gelernte Erzieherin. Wird sie der Aufforderung, ihren Sitz im Landtag zurückzugeben, nachkommen? „Nein, ich werde mein Mandat wahrnehmen und meinen Überzeugungen nicht untreu werden.“

„Ich wußte, daß Claudia Martin unzufrieden war, aber daß sie wirklich austritt, hat mich überrascht“, gibt der AfD-Abgeordnete Heinrich Fiechtner auf Anfrage der jungen freiheit zu. „Da muß ich mich durchaus an die eigene Nase fassen.“ Manche Kritik kann Fiechtner nachvollziehen: Die Einigung der Fraktion beruhe auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, geschuldet dem Druck der Partei. Die Arbeit in der AfD sei in der Tat schwierig und kräftezehrend. Den Austritt Martins hält der Abgeordnete und Arzt dennoch für einen groben Fehler, der ihn auch enttäuscht habe. 

Albern nennt Fiechtner jedoch die Reaktionen manches Kollegen. Den Hinweis des stellvertretenden Fraktionschefs, Martin hätte „ein Psychologe helfen können“, kennzeichne laut Fiechtner „mangelndes Gespür“; solche Empfehlungen kenne man aus totalitären Systemen. Gerüchte, er selbst trage sich mit dem Gedanken, der AfD den Rücken zu kehren, weist der Abgeordnete vehement zurück. „Die AfD ist die letzte kreative Chance, Deutschland wieder auf den Weg der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und der Vaterlandsliebe zu bringen. Deswegen bleibe ich“, beteuert Fiechtner in der jungen freiheit. 

Unterdessen wird Anfang des Jahres eine weitere personelle Veränderung auf die AfD-Fraktion zukommen. Am Dienstag teilte der Abgeordnete Heinrich Kuhn aus Calw mit, er werde aus gesundheitlichen Gründen sein Landtagsmandat zum Monatsende niederlegen. „Was ich mit Idealismus und Mut begonnen habe, hat sich bald als kräftezehrend erwiesen; ich habe meine Belastbarkeit überschätzt“, so Kuhn in einer Pressemiteilung. Ihm folgt Klaus Dürr nach.