© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Neue Einigkeit zwischen Ankara und Moskau
Syrienkonflikt: Trotz oder gerade aufgrund des Mordes am russischen Botschafter in Ankara zeigen beide Seiten einen bis dato ungewohnten Schulterschluß
Marc Zoellner

Der Zeitpunkt hätte kaum perfider gewählt sein können: Gerade zur Eröffnung einer Ausstellung in der türkischen Hauptstadt Ankara, welche als Leitmotiv „das Rußlandbild in der Türkei“ führte, schoß ein zwanzig Jahre junger Attentäter dem russischen Botschafter in der Türkei während dessen Laudatio in den Rücken. „Vergeßt nicht Aleppo, vergeßt nicht Syrien!“, soll der Angreifer, einer der wachhabenden Polizisten der Veranstaltung, dabei gerufen haben. Andrei Karlov, so der Name des Botschafters, erlag seinen Verletzungen, während Sicherheitskräfte den Attentäter in einem Feuergefecht töteten.

Die Wunden jedoch, welche das Attentat zwischen den beiden Schwarzmeerstaaten erneut aufriß, greifen tiefer und gehörten womöglich zum Kalkül des mutmaßlichen Einzelgängers: Denn zwar verständigten sich die beiden Präsidenten der Türkei und Rußlands, Recep T. Erdogan und Wladimir Putin, noch am Abend per Telefonkonferenz über eine gemeinsame Linie im Kampf gegen den Terror. Eine Kehrtwende? 

Um Aleppo führten Ankara und Moskau auf den ersten Blick einen regelrechten Stellvertreterkrieg um die Vorherrschaft im Nahen Osten. Erdogan  fordert den Sturz des syrischen Präsidenten Baschar al-Assad und unterstützt entsprechend die Rebellen des südlich der Türkei angrenzenden Nachbarlandes. Rußland hingegen steht treu zu  Assad, beliefert diesen mit hochmodernen Waffen und greift seit wenigen Monaten mit seinem Militär selbst aktiv – ebenso wie Ankara mit der Operation „Schutzschild Euphrat“ – in den syrischen Bürgerkrieg ein.

Es waren die massiven Bombardierungen der russischen Luftwaffe, welche den Vormarsch von Assads Verbündeten auf den Ostteil der Stadt doch noch ermöglichten. Seit August flogen Kampfflugzeuge beinahe täglich Einsätze, um Ziele in Ost-Aleppo ins Visier zu nehmen: Militärische ebenso wie zivile. Eingeschlossen im sich immer enger ziehenden Belagerungsring harrten monatelang weit über 250.000 Zivilisten dem Ende der Kampfhandlung. 

„Sinnlose“ Zeit, die „wir mit den USA verbrachten“

Zum vergangenen Wochenende seien es noch über 50.000 gewesen, konstatierte Frankreichs Präsident François Hollande. Die Mehrheit von ihnen wurde mittlerweile mit Buskolonnen evakuiert; viele in den unter Regierungsgewalt stehenden Westteil der Stadt, manche aber auch gen Osten – in die noch immer von islamistischen Aufständischen gehaltenen ländlichen Gebiete oder über Umwege weiter nach Westen, ins rund 70 Kilometer entfernte Idlib, der Hochburg der Rebellen.

Das künftige Schicksal der Evakuierten ist noch ungewiß, doch zumindest schon Gegenstand von Verhandlungen auf dem Konferenztisch der neuen Hauptakteure im syrischen Bürgerkrieg: Auf Veranlassung Teherans beraten seit Mitte dieser Woche die Außen- und Verteidigungsminister des Iran, der Türkei sowie Rußlands in Moskau über die Zukunft des einst blühenden Mittelmeeranrainers. Als sprichwörtlicher Pyrrhussieg könnte das Attentat von Ankara dazu führen, gerade letztere Länder wieder enger zusammenzuschweißen.

Eine sich anbahnende Kooperation, die bereits jetzt erste Früchte trägt: Denn immerhin waren Moskau und Ankara federführend in den Verhandlungen um die belagerte Stadt Aleppo. Die traditionellen Westmächte hingegen fanden sich nicht mehr am Gesprächstisch vertreten. Moskau und Ankara sind es auch, die nicht nur das Potential, sondern ebenso den Willen dazu zu besitzen scheinen, Syrien in streng definierte Interessensphären aufzuteilen: Auch hier gilt Aleppo als Präzedenzfall, in welchem die Türkei die von ihr unterstützten Rebellen zum Rückzug aufforderte, Rußland wiederum den türkischen Vormarsch in den syrischen Kurdengebieten guthieß. Prinzipiell, lobte bereits der russische Außenminister Sergei Lawrow, seien die Verhandlungen mit der Türkei in den vergangenen Wochen „weit effektiver als die vielen Monate des sinnlosen Herumhängens, welche wir mit den USA verbrachten.“ 

Eine Zuneigung, welche Erdogan mittlerweile gern bestätigt: „Ich hoffe auf die Unterstützung meines geschätzten und wertvollen Freundes Putin im gemeinsamen Kampf gegen den Terrorismus in dieser Region“, gestand der türkische Präsident kürzlich im Interview mit dem russischen Nachrichtensender Rossiya1.