© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Im Dienste der Mächte der Aufklärung
Eine starke Mitte vertreten: Der Philosoph Hermann Lübbe wird Ende des Jahres neunzig
Karlheinz Weißmann

Als Band 8 der von Gerd-Klaus Kaltenbrunner herausgegebenen Reihe „Herderbücherei Initiative“ erschien 1975 der Titel „Die Zukunft der Vergangenheit“. Bemerkenswert war die Liste der Mitarbeiter: Hellmut Diwald, Peter Berglar, Bodo Scheurig, Armin Mohler, E. M. Cioran, Andreas Hillgruber, Thomas Nipperdey und Hermann Lübbe. Bemerkenswert war sie deshalb, weil sie neben einem Reaktionär von literarischem Rang (Cioran) und dezidiert Konservativen (Diwald, Berglar, Scheurig, Mohler) auch einen Liberalen (Hillgruber) und Männer umfaßte, die man zuvor als Parteigänger der Sozialdemokratie betrachtete (Nipperdey, Lübbe). Lübbe war sogar SPD-Mitglied und hatte aktiven Anteil an der Politik genommen. Zwischen 1967 und 1970 – in der Hochphase der Universitätsreform – bekleidete er das Amt eines Staatssekretärs im nordrhein-westfälischen Kultusministerium.

Die Erfahrungen, die er dabei und als Professor an der Ruhr-Universität Bochum gesammelt hatte, führten allerdings zu dem Entschluß, nicht nur der politischen Praxis den Rücken zu kehren, sondern auch dem Lager, dem er bis dahin zugerechnet wurde. Anfang der siebziger Jahre verband man den Namen Lübbes mit der „Tendenzwende“, weshalb er auch in deren Zentralorgan – der „Initiative“ – mit seinem Beitrag vertreten war. Allerdings machte Lübbe gegen diese Zuordnung Vorbehalte geltend. Denn obwohl er die Studentenbewegung, die Feigheit der Ordinarien wie der Kultusbürokratie und die Zerstörung des Bildungssystems scharf kritisierte, glaubte er doch nicht an Möglichkeit oder Sinn einer Umkehr und stand vor allem der Verknüpfung der „Tendenzwende“ mit dem Attribut „konservativ“ skeptisch gegenüber.

Das war angesichts seines Werdegangs nicht überraschend. Vor neunzig Jahren, am 31. Dezember 1926, in Aurich geboren, wuchs Lübbe in der NS- und Kriegszeit auf und stand nach dem Zusammenbruch wie viele seiner Generation den großen Verheißungen, ganz gleich von wem geboten, ablehnend gegenüber. Seine Prägung durch die „Ritter-Schule“ hat dafür auch eine philosophische Grundlage geliefert. Allerdings ging Lübbe mit seiner Argumentation über die Leitlinie seines Lehrers, des Marburger Philosophen Joachim Ritter, hinaus. Man kann das sehr deutlich an seinem Buch „Politische Philosophie in Deutschland“ aus dem Jahr 1963 erkennen, das auch eine Abrechnung mit dem Eigenweg des politischen Denkens in Deutschland war. Was er hier als Kritik an der Hegelschen Rechten wie dem Positivismus, dem Neukantianismus wie den „Ideen

von 1914“ formulierte, markierte gleichzeitig eine Entscheidung für die „Mächte der Aufklärung“. Den Begriff hatte Lübbe von Helmuth Plessner

übernommen, und tatsächlich wird man seine Stellungnahmen in jener Zeit denen zuordnen müssen, die der Kritik der „Restauration“ einerseits, der weiteren „Verwestlichung“ der Bundesrepublik andererseits dienen sollten.

Daß dieses Projekt fehlschlug und die Kinder von Marx und Coca Cola einem neuen Irrationalismus Vorschub leisteten, mußte Lübbe tief enttäuschen. Mehr noch, es hat ihn dazu gebracht, seine Energie in den folgenden Jahrzehnten darauf zu konzentrieren, dieser fatalen Tendenz Widerstand zu leisten. Man kann das seinem Hauptwerk „Philosophie nach der Aufklärung“ ebenso entnehmen wie seinen Schriften zur Tagespolitik. Wenn er in denen vor allem den „politischen Moralismus“ kritisierte – ganz gleich, ob es um Vergangenheitsbewältigung oder ökologische Hysterie ging –, dann, weil er der Überzeugung war, daß eben dieser Impuls derselbe sei, der auch die totalitären Systeme trug und deren Verbrechen möglich machte. Eine solche Verknüpfung trug Lübbe selbstverständlich scharfe Angriffe der Linken ein, insbesondere aus dem Umfeld der Frankfurter Schule. Trotzdem hat er sich nicht nach rechts gewandt. Ihm ging und geht es vielmehr um Vollendung der Aufklärung, indem man sie von ihrer Theorie- und Utopielastigkeit befreit.

Lübbes Versuch, „Konservierungsakte“ für die Errungenschaften postrevolutionärer Gesellschaften zu leisten, ist an der Selbstzersetzung des Liberalismus, der unerwarteten Renaissance der Religion und dem demographischen Kollaps der europäischen Völker gescheitert. Für die Bewältigung dieser neuen Herausforderungen sind bei Lübbe keine Ratschläge zu finden. Er war der „eigentliche philosophische Verteidiger der Bundesrepublik“ (Henning Ritter), der in allen größeren wie kleineren Kulturkämpfen stets konfliktbereit, mit wohlgesetzten Worten und Süffisanz eine Position der starken Mitte bezog – nicht mehr, nicht weniger.