© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Wenn Imperien sterben
Hedonismus, Egalisierung, Überalterung: Die spätrömische Dekadenz und ihre heutige Rezeption
Wolfgang Kaufmann

Vomunt ut edant, edunt ut vomant“ – „Sie erbrechen sich, um zu essen; sie essen, um sich zu erbrechen.“ Mit diesen Worten beschrieb der römische Philosoph Seneca, welcher als Erzieher des jungen Kaisers Nero tiefe Einblicke in die „besseren“ Kreise des Imperiums bekommen hatte, eine der vielen Unsitten seiner Zeit. Noch drastischer fiel der Roman „Satyricon“ des Senators Titus Petronius aus. Die bei ihm zu findenden Schilderungen des Gastmahls beim neureichen Emporkömmling Trimalchio sowie der Orgie im Hause der Priapuspriesterin Quartilla lassen mehr als deutlich erahnen, wie entartet es bereits zur Mitte des ersten Jahrhunderts nach Christi im Römischen Reich zugegangen sein muß.

Allerdings benutzten Seneca und Petronius das Wort „Dekadenz“ noch nicht, wenn sie die Zustände in ihrer Gesellschaft beklagten. Dieser Begriff wurde erst 1693 von dem französischen Satiriker Nicolas Boileau eingeführt, um den damaligen Verfall des künstlerischen Geschmacks zu geißeln, und dann erstmals 1734 von Charles-Louis de Montesquieu im Rahmen einer Diskussion der Ursachen des Untergangs des Römischen Reiches verwendet. 

Später entwickelte besonders der britische Aufklärer Edward Gibbon in „The History of the Decline and Fall of the Roman Empire“ den Gedanken weiter, daß Imperien wie eben das römische einen natürlichen Prozeß des Aufstiegs, der Blüte und des Verfalls durchliefen, wobei er die Anfänge des „Triumphes der Unkultur“ anders als seine Epigonen deutlich vor der Zeit der Spätantike verortete. Und damit lag Gibbon tatsächlich auch richtig – das beweisen nicht nur die eingangs erwähnten Aussagen im „Satyricon“ und anderswo: Letztlich war sogar schon die republikanische Epoche durch Dekadenz gekennzeichnet. Dafür stehen die Exzesse während der Saturnalien ebenso wie die Trinkgelage und sexuellen Ausschweifungen zu anderen Zeitpunkten. Darüber hinaus sei an die Praxis erinnert, die städtische Plebs durch Brot und Spiele bei Laune zu halten, welche mindestens bis ins Jahr 123 v. Chr. zurückreicht. Damals garantierte die „Lex frumentaria“ des Volkstribunen Gaius Sempronius Gracchus sämtlichen einfachen Römern, die durch den massiven Zustrom importierter Sklaven Verdiensteinbußen hinnehmen mußten, kostengünstiges Getreide.

Dekadenztheorie wird als rechtsextrem denunziert

Ihren ersten Höhepunkt erreichte die „spätrömische“ Dekadenz als Gaius Caesar Augustus Germanicus, genannt „Caligula“, 37 n. Chr. den Kaiserthron bestieg und hernach noch mehr Unmoral und Verschwendung herrschten als je zuvor. So wurde allein im Verlaufe eines einzigen Gelages der Jahrestribut dreier Provinzen verpraßt. Trotzdem überstand das Reich diesen extremen Sittenverfall, bis dann in der Spätantike wiederum all die fatalen Untugenden überhandnahmen, die Geschichtsphilosophen und Historiker vom Schlage Gibbons sowie nachfolgend auch Oswald Spenglers und Otto Seecks akribisch aufgelistet haben: Aberglaube, Bürokratie, Charakterlosigkeit, Duckmäuserei, Egalisierung, Faulheit, Glaubenskämpfe, Hedonismus, Individualismus, Korruption, Lethargie, Materialismus, negative Auslese, Orientalisierung, Parasitismus, Rentnergesinnung, Selbstgefälligkeit, Totalitarismus, Überalterung, Verstädterung und Wehrdienstverweigerung. Dabei führte gerade das letztgenannte Phänomen dazu, daß das Imperium immer öfter auf ausländische Hilfstruppen zurückgreifen mußte, was deren Anführer am Ende dazu ermutigte, dem schwächlich gewordenen West-rom den Garaus zu machen.

Für nüchterne Betrachter sind die Parallelen zur Gegenwart Deutschlands und Europas evident. Was als Zeichen spätrömischer Dekadenz gelten kann, findet man heute oftmals auch, weshalb der mit allgemeiner Empörung quittierte Vergleich des ehemaligen Bundesaußenministers und FDP-Vorsitzenden Guido Westerwelle vom Februar 2010 im Prinzip durchaus zutreffend war, obwohl er eigentlich nur auf die Gefahren des Versprechens von anstrengungslosem Wohlstand abzielte. Das gleiche gilt für die Kritik der Muslime an der Dekadenz des Westens, wobei sie aber vielfach als Migranten in Europa kein Problem damit haben, selbst in der sozialen Hängematte der „degenerierten Ungläubigen“ zu liegen oder selbst in Mekka die Konsumtempel für die wohlbetuchten „Pilger“ von „dekadenten“ westlichen Luxusprodukten nur so überquellen (JF 45/16).

Auf jeden Fall spricht es für den beklagenswerten Zustand der modernen europäischen Geschichtswissenschaft, wenn deren Vertreter nun versuchen, den Untergang des Imperium Romanum schönzureden, um das Menetekel an der Wand verschwinden zu lassen, welches die Menschen unseres Kontinents gemahnen sollte, ihre Lebensweise zu überdenken. Manchmal wird die Dekadenztheorie inzwischen gar in die Nähe rechtsextremen Gedankenguts gerückt. Wer „politisch korrekt“ sein will, tut es daher besser dem US-Mediävisten Walter Goffart nach, der behauptete, daß es überhaupt keine Krise des Römischen Reiches mit anschließendem gewaltsamen Untergang desselben gegeben habe, sondern nur „ein phantasievolles Experiment, das ein wenig außer Kontrolle geriet“. 

Untergang wird heute als Transformation beschönigt

Oder er fabuliert von der schmerzlosen „Transformation of the Roman World“ während der Zeit der Völkerwanderung – diese Phrase mutierte natürlich nicht ohne Grund zum offiziellen Titel eines langfristig angelegten Großforschungsprojektes, das von der European Science Foundation finanziert wurde. Dabei sagen die archäologischen Befunde etwas ganz anderes. Denen zufolge endete die Spätantike keinesfalls in einem multikulturellen Versöhnungstaumel bei gleichzeitigem Erhalt aller zivilisatorischen Errungenschaften. Vielmehr fiel Europa von der Staatsorganisation über die Infrastruktur bis zu Bildung und Wissenschaft verbreitet auf das Niveau prähistorischer Zeiten zurück.

Andererseits gab es neben der spätrömischen Dekadenz aber vielleicht tatsächlich noch einen weiteren Grund für den Untergang des Imperiums. Das zumindest meinte der belgische Historiker Henri Pirenne in seiner letzten, 1937 postum erschienenen Abhandlung „Mahomet et Charlemagne“. Für ihn kam das Finale erst mit dem Vordringen des Islam. Der hieraus resultierende Druck auf Ostrom beziehungsweise Byzanz habe verhindert, daß die Kaiser in Konstantinopel die Rückgewinnung der westlichen Teile des ehemals geeinten Reiches in Angriff nehmen konnten. Davon will man heute freilich gleich gar nichts mehr wissen.