© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

In Stahlgewittern menschlicher Dummheit
Endlich ins Deutsche übersetzt: Der zweite Band von Edward Timms’ Karl-Kraus-Biographie
Dirk Glaser

Anfang April 1899 erschien in Wien eine neue Zeitschrift: Die Fackel. Aufmachung und Ausstattung wirkten durchaus amateurhaft. Was niemanden der Caféhaus-Auguren verwunderte, die den gerade einmal 24 Jahre alten Herausgeber, einen böhmischen Juden namens Karl Kraus, als zwar beängstigend belesenen, aber gegen die etablierten Meinungskartelle Wiens chancenlosen Dilettanten belächelten.

Was dem verbummelten Studenten und vom Konformismus der Redaktionen frustrierten, sich deshalb ins Unabhängigkeit verheißende Abenteuer Fackel stürzenden Journalisten Kraus indes an verlegerischer Professionalität noch fehlte, machte er durch Selbstvertrauen allemal wett. Kündigte er doch nicht weniger an als die herkulische Aufgabe einer „Trockenlegung des weiten Phrasensumpfes“, in den die habsburgische Fin-de-siècle-Gesellschaft zu versinken drohte. 

Bei dieser Mission erfüllte Sprachkritik als Ideologiekritik einen originär politischen Auftrag. Schlechter Stil, so Kraus’ Credo, verrate unzulängliches Denken, und „Denkfaulheit“ hindere an der Erkenntnis der Wirklichkeit, was wiederum gesetzmäßig zu falschem Handeln, zu realitätsblinder Politik führe. Mit dieser Überzeugung wurzelte Kraus, der sich rühmte, gegen die für seine Generation maßgeblichen Zeitdiagnostiker, Karl Marx, Friedrich Nietzsche und Sigmund Freud, immun gewesen zu sein, tief in der Epoche der Aufklärung. 

Die Schriften des Ostpreußen Immanuel Kant, die ihm das rationalistische Sozialideal des 18. Jahrhunderts, ein rechtsstaatlich organisiertes Gemeinwesen vernünftiger, selbstbestimmter Individuen, vermittelten, lieferten den Maßstab, mit dem Kraus das österreichisch-ungarische „Labor der Moderne“ beurteilte, dessen Experimente für den Verehrer des Pessimisten Schopenhauer lange vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs auf die „letzten Tage der Menschheit“ hinauszulaufen schienen.

Feldzüge gegen die „Hyänen“ der Börse

Der David Kraus, der sich in jedem Fackel-Heft mit Goliath anlegte, dem politisch-medialen Komplex der k.u.k. Monarchie, taxierte bereits nach dem ersten Quartal anhand von exakt 236 Schmähbriefen, 83 anonymen Drohbriefen sowie einer tätlichen Attacke, was bei der weiteren Drainierung des „Phrasensumpfes“ auf ihn zukommen würde. Trotzdem hielt er durch. Bis zu seinem Tod 1936, als 922 Nummern der Fackel vorlagen, seit 1912 von ihm allein, dem neben Rudolf Borchardt sprachmächtigsten deutschen Autor des 20. Jahrhunderts, in 10.000 Nachtwachen geschrieben und redigiert. Ein titanisches Werk, das, um nur einige nachmals berühmte Kraus-Adepten zu nennen, die bereits als Gymnasiasten Die Fackel lasen, Franz Kafka und Ludwig Wittgenstein, Bertolt Brecht und Kurt Tucholsky, Walter Benjamin und Gershom Scholem, Karl R. Popper und Otto Neurath lehrte, die Welt zu deuten. 

Ungeachtet der immensen Wirkung zu Lebzeiten, ging das Interesse nach 1945 jedoch schnell zurück und verengte sich zudem germanistisch. Folgerichtig entstand die erste quellensatte Biographie nicht in Deutschland oder Österreich, sondern in Großbritannien, verfaßt von dem an der Universität Sussex lehrenden, dort das Zentrum für Deutsch-Jüdische Studien leitenden, heute bald 80jährigen Literaturwissenschaftler Edward Timms. 1986 kam der erste („Karl Kraus. Apocalyptic Satirist“), 1993 ins Deutsche übersetzte Band heraus, dem 2005 der zweite folgte, dessen Übersetzung noch länger auf sich warten ließ, nämlich bis zum Sommer 2016. 

Von der deutschen Kritik, er liefere im ersten, 1918 endenden Band zu wenig Werkanalyse und zuviel Wiener Kultur- und Geistesgeschichte, zuviel kakanische Innen- und Außenpolitik, ließ sich Timms zum Glück nicht beeindrucken. Im Gegenteil. Vor allem die zeithistorische Konturierung ist im zweiten Band noch erheblich kräftiger ausgefallen, was unvermeidlich war, weil Kraus‘ letztes Lebensdrittel abrollte im Drama der Republik Österreich, von deren Geburtswehen 1918/19 bis kurz vor ihrem Untergang per „Anschluß“ im März 1938. 

Allein den drei Jahren im Schatten der NS-Machtergreifung, als sich Kraus publizistisch für das autoritäre Regime des 1934 von „ostmärkischen“ Nationalsozialisten ermordeten Kanzlers Engelbert Dollfuß und dessen Nachfolger Kurt von Schuschnigg engagierte, gönnt Timms einhundert Seiten. Sie weisen die an Kraus’ Diktum „Zu Hitler fällt mir nichts ein“ geknüpfte Einschätzung als unzutreffend zurück, ausgerechnet in der Stunde höchster Gefahr habe der seit 1920 gegen die „Hakenkreuzler“ und das breite Spektrum rechter wie linker Republikfeinde fechtende Großkritiker resigniert. 

Weitere einhundert Seiten handeln „Die Verteidigung der Republik“ ab. Sie bilden zusammen mit dem ebenso ausführlichen Kapitel „Kultur und Presse“ das Zentrum von Timms’ Kraus-Kosmos. Darin tritt ein einsamer Streiter für eine humane Weltordnung gegen die Mächte der Finsternis an, gegen den sich imperialistisch globalisierenden, Kriege provozierenden, Natur und Menschen vernutzenden Kapitalismus sowie gegen die Presse als seinem für den Massenbetrug unverzichtbaren Helfershelfer. 

Unbestechlich leuchtet daher Die Fackel in das Dunkel der „Letzten Nacht“, wo Politiker, Militärs, Banker, Börsenmakler und Medienmogule zum Totentanz der Menschheit aufspielen. Ein Pandämonium, das nicht zufällig Kafkas Horrorszenarien aus dem Innern des „stählernen Gehäuses“ (Max Weber) ähnelt. Das aber sozioökonomische Realitäten, statt sie enigmatisch zu verhüllen, en détail abbildet, penibel Täter und ihre Taten protokolliert. Denn darauf, hieb- und stichfeste Beweise präsentieren zu können, beruhten die juristischen Erfolgschancen von Kraus’ Feldzügen gegen die „Hyänen“ der Börse und die mit Täuschungen (Lüge und Presse sind in der Fackel nahezu Synonyma), Personalisierungen von Politik, Privatklatsch und damals innovativer Visualisierung von Nachrichten (für funktionale Analphabeten, wie Kraus spottete) an der „Trivialisierung des Geistes“ arbeitende  „Gehirnwäsche-Journalistik“. 

Timms kommt daher nicht umhin, ein von der Kraus-Forschung eher stiefmütterlich traktiertes Thema intensiv zu erörtern: den angeblichen „jüdischen Selbsthaß“, der den 1898 aus der jüdischen Gemeinde ausgetretenen Agnostiker bewogen habe, permanent Juden als Agenten des Kapitalismus anzuklagen. Stattdessen dokumentiert Timms akribisch, daß sich Kraus’ wildeste Kampagne, 1923 entfesselt gegen den betrügerischen Spekulanten Camillo Castiglioni und den Kriegsgewinnler Emmerich Békessy, den korrupten Herrn der Wiener „Revolverpresse“, gegen gerichtsnotorische jüdische Wirtschaftskriminelle richtete und sich weder aus „Haß“ noch aus „Vorurteilen“ speiste. 

Kraus reagierte mit Furor auf den Bolschewismus 

Da der elitäre Bürger Kraus, der gutsituierte Sohn eines Fabrikanten, kein Marxist war – er glaubte vielmehr, es genüge, die zahllosen „Auswüchse“ des Kapitalismus zu beseitigen –, reagierte er mit gleichem Furor auf den Bolschewismus. Die 1919 nach Mitteleuropa schwappende Moskauer Revolutionswelle, die in Budapest und München die von Kraus mit Gift und Galle kommentierte Etablierung jüdisch dominierter Räte-Regime begünstigt hatte, verstand er als weiteren Akt im Prozeß planetarischer Verwüstung, die für ihn ein Gemeinschaftsunternehmen von Juden und Nichtjuden, eine „jüdisch-christliche Weltzerstörung“ war. 

Generell stützte sich Kraus’ Kampf zwar auf den harten soziologischen Befund, der auch die zumeist jüdischen Führer der austromarxistischen Sozialdemokratie sowie seinen journalistischen Kollegen Theodor Herzl, den Urheber des Zionismus, bereits um 1900 beunruhigte: daß im Finanzwesen und in der Presse in den Zentren der Doppelmonarchie, Wien und Budapest, Juden in der Mehrheit waren. Aber, insoweit sich vom rabiaten alldeutsch-völkischen Antisemitismus schroff abgrenzend, reduzierte Kraus weder die kapitalistische Geld- noch die bolschewistische Machtgier auf das primitive Narrativ vom genetisch determinierten „Wesen der jüdischen Rasse“.

Für ihn trieb das Projekt „Weltzerstörung“ daher, wie dies einem zeitweiligen Wiener Mitbürger des Fackel-Herausgebers gewiß schien, nicht die „jüdische Weltverschwörung“ voran, sondern ein alle ethnischen Differenzen einebnender, die Menschheit einender, universaler Defekt: die Dummheit. Ein Befund, der dem Werk des Humanisten Karl Kraus auf unabsehbare Zeit Aktualität garantiert. 

Edward Timms: Karl Kraus. Die Krise der Nachkriegszeit und der Aufstieg des Hakenkreuzes. Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2016, gebunden, 679 Seiten, Abbildungen, 48 Euro