© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 52/16-01/17 23. Dezember / 30. Dezember 2016

Der Flaneur
Poesie der Kinderlogik
Paul Leonhard

In Wattekombis gehüllte Männer werfen Tannenbäume von der Ladefläche eines LKWs. Andere schleifen das Grün quer über das Marktpflaster der Kleinstadt. Der Markt wird aufgebaut. Ein kleiner Junge schaut staunend, wie Handwerker mit wenigen Griffen aus Hölzern fertige Hütten zimmern. „Mama“, fragt er dann zu seiner Mutter hochblickend, „und wann kommt der Weihnachtsmann?“

Dann läuft er ein paar Schritte weiter und bestaunt mit glänzenden Augen den großen Tannenbaum, der die Mitte des Marktes schmückt. Die Mitarbeiter der Stadtwerke haben ihn bereits vor Tagen mit bunt glänzenden Geschenkverpackungen geschmückt.

Während die Mutter noch überlegt, hat ihr Sohn schon einen Ausweg parat.

Dann hört der Kleine seine Mutter rufen und läuft ihr schnell hinterher. „Mama, schau mal!“, ruft er plötzlich und deutet auf ein buntes Paket, das an einem gußeisernen Zaun hängt. Offenbar haben es ein paar übermütige Jugendliche vom Baum gerissen und dann liegenlassen, wo es Passanten aufgehoben haben. „Das hat der Weihnachtsmann bestimmt für mich hierher gelegt, damit ich es finde“, argumentiert der Junge. Und während die Mutter noch den Kopf schüttelt und erläutern möchte, daß es bestimmt nicht für ihn ist, hat er das Paket schon blitzschnell aufgerissen und – findet kein Geschenk. Empört zeigt er seiner Mutter den Haufen buntes Packpapier. „Da ist nichts drin.“

Die Mutter lächelt. „Da war schon ein Geschenk drin, aber eben nicht für dich.“ Und da der Junge einfach ein fremdes Paket geöffnet habe, könne er das für einen anderen bestimmte Geschenk nicht sehen. Das habe der Weihnachtsmann so eingerichtet. Der Kleine schaut etwas betroffen. „Jetzt ist das Paket aber kaputt. Bekommt der andere Junge jetzt kein Geschenk?“ Während die Mutter überlegt, wie sie sich aus ihrer eigenen Argumentation wieder herauswindet, hat ihr Sohn schon einen Ausweg parat. „Morgen basteln wir im Kindergarten Geschenke, und ich hänge einfach eins hier an den Zaun. Der Weihnachtsmann weiß dann schon Bescheid.“