© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

„Die Radikalen bestimmen den Ton“
Mit großen Hoffnungen und viel Engagement ist Claudia Martin vor gut drei Jahren der AfD beigetreten und im März für sie in den Landtag von Baden-Württemberg eingezogen. Nun hat die Abgeordnete öffentlichkeitswirksam ihren Austritt erklärt. Warum?
Moritz Schwarz

Frau Martin, „schlimmer als die Altparteien“ nennen Sie die AfD. „Schlimmer“ ist allerdings nur schwer vorstellbar.

Claudia Martin: Wir werfen den anderen Parteien vor, sie hätten den Bezug zum Bürger verloren, seien nur an Macht, Posten und Vorteilen interessiert. Nun habe ich erlebt, daß das bei der AfD auch nicht anders ist. 

Wenn das stimmt, wäre das schlimm – aber wohl kaum „schlimmer“. 

Martin: Wir wollten doch anders sein. Eine Alternative! Eben nicht verkrustet und erstarrt. Doch tatsächlich haben wir diesen Zustand sogar schneller erreicht als die Etablierten.

Alle Parteien behaupten, „anders“ zu sein. Die Etablierten wollen die Moral für sich gepachtet haben, die AfD die Bürgernähe.  So ist eben der politische Kampf. Müssen Sie sich nicht Naivität vorwerfen lassen, wenn Sie darauf hereingefallen sind?  

Martin: Das kann man mir möglicherweise vorwerfen. Vielleicht bin ich mit zuviel Idealismus in die Politik gegangen. Doch vielleicht ist ja gerade der nötig, wenn man wirklich anders sein will.  

In jeder Partei gibt es Pragmatismus, Opportunismus – aber auch einen Anteil Idealismus. Bei der AfD nicht? 

Martin: Doch. Aber er ist nicht mehr in der Mehrheit, und er schrumpft.

Können Sie ein Beispiel für Ihren Vorwurf des Opportunismus nennen?

Martin: Etwa der Umgang mit meinem Kollegen Heinrich Fiechtner, der sich als Mediziner für die Einführung einer Gesundheitskarte für Asylbewerber ausspricht und damit gegen die Meinung in der Fraktion steht. 

Fiechtner hatte als Redner zu diesem Thema im Landtag seine Meinung vertreten statt die seiner Fraktion – und sich damit über die Mehrheit hinweggesetzt. Nachvollziehbar, daß das Unmut provoziert. 

Martin: Meine Kritik ist, daß sich die Fraktion gar nicht in der Sache mit der Frage auseinandergesetzt hat – also, ob die Gesundheitskarte für Asylbewerber sinnvoll ist. Statt dessen hat sie eine dominante Meinung in der Partei übernommen, die sich reflexhaft gegen Asylbewerber richtet. Dabei, das sei angemerkt, geht es noch nicht einmal um Vorteile für diese, sondern die Karte würde schlicht helfen, Geld zu sparen. 

Kritiker sprechen allerdings von „steigendem Verwaltungsaufwand, Gebühren und höheren Kosten für die Kommunen“.

Martin: Das Gegenteil ist richtig, wie die Einführung der Karte in Hamburg zeigt, wo sie deutlich hilft zu sparen.  

Ihr Fraktionschef Jörg Meuthen wirft Ihnen eine „hinterrücks vorbereitete Aktion für billige 15 Minuten Ruhm“ vor.

Martin: Mir geht es nicht um Ruhm, sondern darum – und deshalb bin ich öffentlichkeitswirksam ausgetreten –, daß man in der AfD anfängt nachzudenken.

Dort hat man Sie im Verdacht, Sie wollten eher Ihr angekündigtes Buch vermarkten.

Martin: Sehen Sie, das meine ich: Dieser Hang zur einfachsten „Erklärung“, statt sich zu fragen, ob die Dinge nicht vielschichtiger sein könnten. Nein, wenn das so wäre, dann läge das Buch fertig vor. Es wird aber noch Monate dauern, bis es in Druck gehen kann. Und ich schreibe es nicht, weil ich mir Gewinne erhoffe, sondern weil ich Rechenschaft ablegen will und mir wünsche, daß in der Partei ein Nachdenken beginnt. 

Seit der Gedeon-Affäre gilt die Fraktion im Stuttgarter Landtag – trotz formeller Wiedervereinigung – als gespalten. Wobei die sogenannten Gemäßigten um Fraktionschef Meuthen die Mehrheit haben. Eben diese wurden aber nun durch Ihren Austritt geschwächt. Haben Sie also nicht jene, auf die Sie setzen, im Stich gelassen?  

Martin: Im Gegenteil, ich hoffe, mein Schritt wird als Zeichen für ihre Not wahrgenommen! Denn es mag seltsam klingen, aber die Mehrheit um Herrn Meuthen zeigt sich als die Schwächeren. Es gibt in der Fraktion zwar etliche, die eine ähnliche Linie vertreten wie ich, aber sie geben gegenüber der radikaleren Minderheit immer wieder klein bei.

Warum?

Martin: Es gibt einen Druck aus der Partei, doch bitte geeint aufzutreten. Folge: Die Radikalen tönen wie sie wollen, weil die Gemäßigten, wenn sie dies kritisieren, als Störenfriede dastehen. Nehmen Sie zum Beispiel die Auseinandersetzung zwischen den Abgeordneten Stefan Räpple und Stefan Herre. 

Räpple soll während einer Landtagssitzung in Richtung der anderen Fraktionen „Volksverräter“ gerufen haben und, von Herre deshalb später zur Rede gestellt, Augenzeugen zufolge auch diesem gegenüber ausfällig geworden sein. Allerdings wurde Räpple von der Fraktion dafür bestraft. 

Martin: Ja, doch nur formal, während Herre nicht die Unterstützung erfuhr, die er verdient hätte und am Ende dastand, als wäre er ein Lügner. 

Als Wortführer der Minderheit gelten Emil Sänze und Bernd Gögel. Wie erklären Sie sich deren Einfluß auf die Fraktion?

Martin: Das sind Menschen, die unbedingt auf ihren Ideen und Idealen beharren. Während die gemäßigte Mehrheit um des lieben Friedens willen zu Kompromissen bereit ist. So treibt die radikale Minderheit in der Fraktion die gemäßigte Mehrheit vor sich her. Im Fall Gedeon gab es sogar klare Beschlüsse des Bundes- und des Landesvorstandes, sowie von Kreisvorständen, den Kollegen Gedeon aus der Fraktion auszuschließen. Aber es fehlte an der nötigen Standhaftigkeit hinter diesen Beschlüssen. Letztlich hat man dem Druck aus der Partei nachgegeben, sich unbedingt zu einigen, weil der Streit Ansehen und Wählerstimmen kosten würde. Das stimmt zwar, aber ich glaube, viele Bürger hätten Verständnis gehabt, wenn wir diesen Kampf durchgefochten hätten. 

Gerade Ihre gemäßigten Kollegen hat Ihr Schritt schwer enttäuscht. Hätten Sie diese nicht vorher informieren müssen?

Martin: Das hätte ich sehr gerne getan, aber es ging nicht. Denn das wäre nach aller Erfahrung durchgesickert, woraufhin der radikale Flügel die Deutungshoheit über meinen Austritt an sich gerissen hätte. So war das ja schon bei der Spaltung der Fraktion, wo es den wahren Spaltern – der Minderheit der Gedeon-Anhänger – gelungen ist, die Mehrheit, die der Fraktionsführung treu blieb, als angebliche Abspalter darzustellen. 

Ihre Kritik verdeutlicht, warum Sie die Fraktion verlassen haben. Warum aber sind Sie auch aus der Partei ausgetreten?

Martin: Auch wenn es in keiner anderen Fraktion so verfahren ist wie in Stuttgart – was vielleicht mit der Spaltung durch die Affäre Gedeon zusammenhängt –, so weiß ich durch Zuschriften, daß die Lage in der Partei insgesamt nicht anders ist.

Allerdings zeigt die Bundestagswahlliste, daß die Landespartei doch eher in Ihre Richtung tendiert – denn dort finden sich überwiegend gemäßigte Kandidaten.

Martin: Für mich ist unsere Fraktion ein Abbild der Partei: Selbst wenn die Gemäßigten zahlenmäßig stärker sind, den Ton bestimmen die Radikalen. 

In Ihrer Austrittsstellungnahme haben Sie die AfD „rechtspopulistisch“ genannt. Können Sie das begründen? 

Martin: Ich weiß, daß man in der Politik Inhalte populär formulieren muß, will man sie an den Mann bringen. Pure Daten und Fakten erreichen die Bürger nicht. Aber Parolen wie „An Merkels Händen klebt Blut“, „Merkel ist an allem Schuld“ oder „Merkel muß weg“ übersteigen meines Erachtens das zulässige Maß an politischem Populismus. 

Warum sollte eine Opposition nicht vehement die Abwahl der Regierung fordern? 

Martin: Ich verstehe Opposition differenzierter. In erster Linie ist ihre Aufgabe, die Situation zu verbessern, indem sie die Regierung vor sich hertreibt und zwingt, Mißstände zu ändern. Hauptziel ist es nicht, die Regierung um jeden Preis zu stürzen, nur damit man selbst an die Macht kommt.

Sie kritisieren außerdem, es werde in der Fraktion nur noch über „Flüchtlinge“ und Islam gesprochen. Ist das nicht normal? Schließlich sind das die aktuellen Themen.

Martin: Daß diese Themen dominant sind, kritisiere ich nicht. Wohl aber, daß quasi alles damit in Verbindung gebracht wird. Sicher sind die „Flüchtlinge“ und der Islam Faktoren etwa in Sachen innere Sicherheit. Der Hauptgrund für die Misere in diesem Bereich sind sie jedoch nicht. Das ist vielmehr der jahrelange Abbau unseres Sicherheitsapparats. Ich gebe Ihnen noch ein weiteres Beispiel: Die Stuttgarter Kultusministerin hat den Ausbau der Ganztagsschulen gestoppt. Prompt wurde von unserer Seite die Flüchtlingspolitik dafür verantwortlich gemacht. Nochmal, natürlich liegt mit dieser vieles im argen, auch deshalb habe ich mich ja in der AfD engagiert. Doch wer solche Behauptungen in die Welt setzt, sollte auch Belege dafür liefern. Und das passiert nicht. 

Ein weiterer von Ihnen genannter Kritikpunkt ist ein Plan, etwa zur Kasernierung von Flüchtlingen, der Sie an „das Warschauer Ghetto erinnert“. Ist diese Kritik nicht völlig überzogen? Denn der Plan sah ja weder rassische Segregation von den Deutschen noch systematische Unterernährung und Verwahrlosung mit dem Ziel eines Massensterbens vor, im Gegenteil. 

Martin: Immerhin aber sah er etwa die Aberkennung von Rechten und die Segregation nach Ethnien vor. 

Aber eben nicht aus „rassischen“ Gründen, sondern um Gewalt zwischen Volksgruppen oder gegen Christen zu verhindern. 

Martin: Da bin ich mir nicht so sicher. 

Sie unterstellen, dahinter stehen doch rechtsextreme Motive? 

Martin: Ich will sagen, daß ich mir da einfach nicht sicher bin.  

Was ist gegen die Kasernierung von Asylbewerbern einzuwenden?

Martin: An sich nichts, das müssen Sie mißverstanden haben, denn das habe ich gar nicht kritisiert. Im Gegenteil, angesichts der vielen untergetauchten Asylbewerber meine ich, daß wir Wege finden müssen, jene im Blick zu behalten, die in unser Land gekommen sind. Ich würde allerdings statt von Kasernierung von Flüchtlingswohnheimen sprechen. Dabei gilt die Forderung nach einer Beschleunigung der Asylverfahren, denn eine Langzeitunterbringung würde sich als problematisch erweisen.   

Schließlich wurde der Plan in der Fraktion abgelehnt. Ist es nicht unfair, diese dennoch damit in Verbindung zu bringen?

Martin: Ich finde es gefährlich, daß ein solcher Plan überhaupt bei uns aufgetaucht ist. Auch wenn er abgelehnt wurde, der Geist, den er atmet, spukt weiter in vielen Köpfen herum. Und es müßten nur ein paar Funktionsträger ausgetauscht werden und etwas in der Art würde beschlossen werden. Was in der AfD nicht begriffen wird, ist, daß wer ständig rechts blinkt, irgendwann auch rechts abbiegt – auch wenn er sich einbildet, er würde weiter geradeaus fahren.  

Was ist schlimm daran, rechts abzubiegen? 

Martin: Ich meine damit, daß wir die Grenzen des Konservatismus überschreiten. Denn in der AfD hat sich eine Wagenburgmentalität entwickelt: jede Kritik von außen wird als Angriff betrachtet. Kritiker von innen werden als „Weicheier“, Abweichler oder gar gehirngewaschene Systemlinge verunglimpft. So wird auch Kritik, die berechtigt ist, abgetan. Das verstellt den Blick auf die Realität und verhindert Kurskorrekturen. Das eigentliche Problem hinter all dem ist, daß in der AfD einfach nicht klar ist, wo die ethischen Grenzen verlaufen. Und auch die Führung der Partei – auf allen Ebenen – schafft es nicht, klar für solche zu sorgen. 

Was müßte getan werden?

Martin: Die AfD braucht dringend klare Grenzen und konsequente Führung!  

Drohen der Fraktion weitere Austritte?

Martin: Ich weiß, daß einige Kollegen ebenso unzufrieden sind wie ich. Aber wer laut protestiert, bekommt wie gesagt ein sehr häßliches Gesicht der Partei zu sehen. Das auf sich zu nehmen, dazu ist nicht jeder bereit. 

Wollen Sie, wenn möglich, in eine andere Partei übertreten?

Martin: Nein, denn ich bin damals aus Überzeugung  und Protest gegen die etablierten Parteien in die AfD eingetreten.

Alleine können Sie im Landtag allerdings nichts bewirken.

Martin: Das sehe ich anders. Ich werde das tun, wofür ich gewählt worden bin: Oppositionsarbeit leisten! Und ich glaube, daß ich auch alleine vieles werde anstoßen können. 






Claudia Martin, die parteilose Abgeordnete des Landtages von Baden-Württemberg und ehemalige Vorsitzende des Kreisverbandes Rhein-Neckar war von Mai 2013 bis Anfang Dezember 2016 Mitglied der Alternative für Deutschland. Geboren wurde die gelernte Erzieherin 1970 im sächsischen Annaberg-Buchholz. Ihr Buch „AfD. Wir müssen reden!“ soll im ersten Halbjahr 2017 erscheinen. 

Foto: Ramponiertes Parteiplakat: „In der AfD ist einfach nicht klar, wo denn die ethischen Grenzen verlaufen. Und auch die Führung – auf allen Ebenen – schafft es nicht, für solche zu sorgen“

 

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