© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 02/17 / 06. Januar 2017

„Schaden von der Gesellschaft abwenden“
Gesundheitssystem: Apothekerverbände und Politik wollen den Versandhandel mit Arzneimitteln einschränken / Probleme bei Versorgungssicherheit?
Dirk Meyer

Die Bundesvereinigung Deutscher Apothekerverbände (ABDA) gab sich kämpferisch: „Wir werden aus allen Rohren schießen“, so ABDA-Präsident Friedemann Schmidt nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) vom 19. Oktober 2016 zur Aufhebung der geltenden Preisbindung für rezeptpflichtige Arzneimittel für ausländische Anbieter. Den Versandapotheken ist es damit erlaubt, Kunden Rabatte zu gewähren.

„Das zerstört das Solidarprinzip der Gesetzlichen Krankenkassen“, warnte Andreas Kiefer, Präsident der Bundesapothekerkammer. „Um Schaden von der GKV und letztlich der Gesellschaft abzuwenden, müssen wir das verhindern.“ Und die 53.000 Apotheker in Deutschland fanden noch vor Weihnachten Gehör: Die ABDA-Mitgliederversammlung begrüße den Vorschlag von Gesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) und die Forderung des Bundesrates, den Versandhandel mit Arzneimitteln auf nicht verschreibungspflichtige Produkte zu beschränken. Das Preisbildungssystem schütze Patienten „vor Übervorteilung, verhindert ruinösen Wettbewerb und Defizite in der Arzneimittelversorgung durch Apotheken“ und mache das GKV-Sachleistungsprinzip erst möglich, heißt es in einer ABDA-Resolution.

Es geht um einen Umsatz von 32 Milliarden Euro

Die holländischen Versender rechnen anders: Doc Morris (Jahresumsatz: 300 Millionen Euro) gibt zwei Euro je Rezept, die Europa-Apotheke (120 Millionen Umsatz) preisgestaffelt 2,50 bis zehn Euro. Konkret geht es um den Umsatz von 32 Milliarden Euro für rezeptpflichtige Arzneimittel, die zu 98 Prozent über Apotheken in Deutschland vertrieben werden. Durchaus verständlich, daß das Urteil „maximal provoziert“ (Schmidt), denn es könnte langfristig mehr als nur zwei Prozent des Umsatzes kosten.

Letztlich handelt es sich um einen Fall von Inländerdiskriminierung, bei dem die deutschen Apotheker weiterhin an das Rabattverbot der hiesigen Arzneimittelpreisverordnung gebunden sind. Indem der EuGH dem freien Binnenhandel verpflichtet ist, verkehrt sich ihr Schutz ins Gegenteil. Sie müssen zusehen, wie ausländische Anbieter Preisvorteile ausspielen. Zur Klarstellung: Aus Gründen des Verbraucher- und des Gesundheitsschutzes läßt Artikel 169 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU Ausnahmen vom Binnenmarktprinzip zu. Allerdings folgte der EuGH in seiner Begründung nicht der ABDA, indem er gerade die Preisdifferenzierung als Maßnahme zum Erhalt der ländlichen Versorgung ansah.

Doch was ist eigentlich von den Begründungen des staatlich legitimierten Preiskartells der Apotheker zu halten? Es würde Patienten vor Ausbeutung in Notlagen schützen – doch im Gegensatz zum Abschleppwagen zahlt hier die GKV. Die Aushöhlung des Solidarprinzips würde drohen, da bundesweit 6,7 Millionen GKV-Versicherte zuzahlungsbefreit sind – und die bekämen jetzt auch noch eine Prämie. Schließlich würde ein Rosinenpicken eine flächendeckende, wohnortnahe Versorgung und Beratung durch Apotheken verhindern.

Versorgungssicherheit und Wettbewerb unvereinbar?

Der nach dem Urteil in Gang gesetzte politische Prozeß ist ein Lehrbeispiel der Ökonomie des Lobbyismus. Die ABDA als Interessenvertretung bündelt den Nutzen der 20.000 Apotheken, von deren Eigentümern und Beschäftigten. Die Kosten des Preiskartells durch wettbewerblich überhöhte Preise verteilen sich diffus auf die 72 Millionen GKV- und die neun Millionen privat Versicherten. Da zudem Minister Gröhe im Wahljahr 2017 ein Störfeuer der ABDA vermeiden möchte, hat er den Verbandsvorschlag für ein generelles Verbot des Versandhandels bereits in die Gesetzesvorbereitung eingebracht. Ergebnis: Marktabschottung statt wettbewerblich angemessene Rahmenbedingungen.

Aber ließen sich Qualitäts-, Beratungs-, Versorgungssicherheit einerseits und Wettbewerb andererseits vereinen? Ein Blick auf die unterschiedlichen Interessen der Beteiligten bietet eine gute Voraussetzung für Alternativen unter angemessenem Ordnungsrahmen. Während die Apotheker neben ihrem Berufsethos ein Einkommensinteresse verfolgen, geht es den Versicherten um Kostengünstigkeit. Davon zu unterscheiden sind die Patienten, die im Bedarfsfall eine wohnortnahe Versorgung bei hoher Versorgungsqualität wünschen. Nach Untersuchungen der Stiftung Warentest bieten Versandapotheken Transportsicherheit und eine angemessene Beratung, wenn auch in anderer Form (Video-Chat, Ratgeber).

Vorteile der Massenabfertigung, geringere Lagerhaltungs- und Logistikkosten sowie die Marktmacht bei Einkaufspreisen eröffnen kurzfristige Kostensenkungspotentiale von geschätzt 500 Millionen Euro (etwa ein Prozent des Umsatzes). Nicht der Patient, aber die Kassen könnten Rabattverträge im In- und Ausland mit den Apotheken aushandeln. Damit könnte auch der niedrige Mehrwertsteuersatz von sechs Prozent in den Niederlanden berücksichtigt werden.

Teure Notdienste, die derzeit pro Medikament – egal ob zur regulären Öffnungszeit oder nachts – mit einem Notdienstzuschlag von pauschal 0,16 Euro abgerechnet werden, könnten über einen Verteilungsschlüssel entsprechend dem Mehraufwand honoriert werden. Das Problem der flächendeckenden Versorgung wäre durch eine Staffelung des jetzt einheitlichen Apothekenzuschlages pro Arznei von 8,35 Euro plus drei Prozent vom Einkaufspreis zu lösen. Für ein Medikament, das einen Abgabepreis von 50 Euro besitzt, bekommt der Apotheker – egal ob in Hamburg oder in Cölpin (Mecklenburg) – einen einheitlich pauschalen Zuschlag von 9,92 Euro.

Die Kassenverbände könnten differenzierte Zuschläge je nach Einzugsgebiet vereinbaren. Denkbar wäre auch, daß Apotheker ihren Zuschlag individuell festlegen. In der Schweiz und Österreich wird die Arzneiversorgung in entlegenen Regionen durch niedergelassene Ärzte vorgenommen. Die Zukunft: Die Winklmoosalm wird in einem Modellversuch durch Drohnen versorgt.

Aktuelle Zahlen rund um Apotheken:  www.abda.de