Willy Brandt, Helmut Schmidt, Helmut Kohl und Franz Josef Strauß hatten trotz aller Gegensätze eine Gemeinsamkeit: Sie mochten den Spiegel nicht. In diesem Jahr wird das „Scheißblatt“ (Zitat Willy Brandt) 70 Jahre alt. Sein Zustand ist desolat wie nie: Auflagenschwund, Entlassungswellen und alternative Informationsquellen machen dem linken Leibblatt das Leben schwer. Die Redaktion jammert zum Jubiläum: „Der 70. Geburtstag des Spiegel fällt in eine kritische Zeit. Weltweit mischen Populisten die Politik auf, Wutbürger randalieren gegen Eliten, im Internet blühen die asozialen Medien.“

Der Fingerzeig auf die bösen Anderen ist heuchlerisch, denn die Krise ist selbtgemacht.

Doch das Zeigen mit dem Finger auf die bösen Anderen ist heuchlerisch, denn die Krise ist selbstgemacht. Und das ist belegbar: Der Diplom-Informatiker David Kriesel veranschaulichte auf dem Hamburger „Chaos Communication Congress“ im Dezember die Zensurpolitik von Spiegel Online. Dazu hat Kriesel seit Sommer 2014 automatisiert täglich Hunderte SpOn-Texte ausgewertet.

Besonders untersuchte der Datenforscher die Kommentierbarkeit von Artikeln. Bis zum August 2015 lag der Anteil der offen kommentierbaren Beiträge stabil bei etwa 80 Prozent. Bis Februar 2016 sank dieser Anteil auf 50 Prozent. Im September 2016 überstieg die Zahl der nicht kommentierbaren Artikel mit 55 Prozent erstmals die der offenen Leserforen!

Kriesel analysierte auch die Kommentierbarkeit bestimmter Themen. Während der Lufthansa-Streik, das iranische Atomprogramm und der Brexit überwiegend offen kommentiert werden konnten, waren fast alle Artikel zu den Themen NSU-Prozeß, Flüchtlinge, Kriminalität und islamischer Terror für Leseräußerungen gesperrt. Beispiel: Vor den Anschlägen in Paris im November 2015 war die Mehrheit der Beiträge zum Thema Frankreich offen kommentierbar, seitdem hat sich das Verhältnis umgekehrt. „Sturmgeschütz der Demokratie“? Das ist laaange her!v