© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

„Diffamieren und verleumden“
Wie ist es um die intellektuelle Kultur und die Meinungsfreiheit in Deutschland und Europa bestellt? Die Situation ist alarmierend, warnt der renommierte Publizist und Historiker Egon Flaig
Moritz Schwarz

Herr Professor Flaig, gibt es eine Verbindung zwischen dem Historikerstreit von 1986/87 und den Debatten heute?

Egon Flaig: Als Jürgen Habermas damals den Streit anzettelte, glaubten Ernst Nolte und die anderen angegriffenen Historiker, es gehe um die Sache und um die historische Wahrheit. Doch Habermas und dem ihm sekundierenden Hans-Ulrich Wehler ging es um Gedächtnispolitik, also darum, was in der Öffentlichkeit gesagt werden durfte und was nicht. Sachlich hat Nolte in allen wesentlichen Streitpunkten recht behalten; die Forschungen zum Stalinismus haben das erwiesen. Daß die Shoah ein singulärer Vorgang war, hatte Nolte selber gesagt. Doch seinen Gegnern reichte das „singulär“ nicht – denn letztlich ist alles Existierende singulär –, also mußte die Shoah „unvergleichbar“ sein. Die „Unvergleichbarkeit“ ist freilich eine Nonsense-Behauptung, weil rein logisch nichts unvergleichbar ist. Dennoch kanonisierte das Lager um Habermas die „Unvergleichbarkeit“; und so wurde plötzlich das Vergleichen zu einem moralischen Vergehen. Aber wenn Historiker nicht mehr vergleichen dürfen, dann können sie historische Phänomene nicht mehr erklären. Sie können also buchstäblich ihr Metier nicht mehr ausüben.

Wurden also im Historikerstreit „Spielregeln“ durchgesetzt, die bis heute prägen?

Flaig: Gewiß. Die intellektuelle Kultur Deutschlands schleppt das Habermassche Erbe weiter. Seitdem Nolte diffamiert wurde, steht die Gesinnung höher als die Wahrheit. Das betraf zunächst bloß den Umgang der Deutschen mit ihrer eigenen Vergangenheit. Doch der „Triumph der Gesinnung über die Urteilskraft“ – wie Hermann Lübbe es formulierte – ergriff innerhalb von zwei Jahrzehnten fast sämtliche Bereiche des kulturellen Lebens. 

Immerhin formulierte aber Habermas doch das Ideal des „herrschaftsfreien Diskurses“, dem öffentliche Debatten sich so gut als möglich anzunähern hätten.

Flaig: In der Tat hat Habermas seine eigene Leitidee diskreditiert: Er beförderte moralisch legitimierte Denkverbote; damit sabotierte er sein eigenes Ideal des „herrschaftsfreien Diskurses“. 

Welche Auswirkungen hat diese Einschränkung des Sagbaren auf die Öffentlichkeit und auf die Meinungsbildung?

Flaig: Immanuel Kant bestimmte die Öffentlichkeit als denjenigen Ort, wo die Bürger darüber verhandeln sollen, was rechtlich ist und was zumutbar. In der Öffentlichkeit sollen sie genötigt sein, ihre Meinungen nachvollziehbar zu begründen. So wird sie zum Forum des Argumentierens und zum Wirkungsraum der Vernunft. Die Vernunft verlangt nicht bloß, die eigene Meinung so zu formulieren, daß sie einer Kontroverse standhält, sondern auch, die eigene Meinung zu verändern, wenn andere stärkere Argumente vorbringen. Wird die Öffentlichkeit beschädigt, dann ist trotz demokratischer Verfassung das Handeln von Regierungen nicht mehr zu kontrollieren. Aus diesem Grunde müssen Intellektuelle jegliche „öffentliche Meinung“ bekämpfen. Nach Hannah Arendt ist eine solche öffentliche Meinung „in Wahrheit der Tod aller Meinungen und Meinungsbildung“. Sie wirkt totalitär wie ein erzwungener Glaube und ist Gift für jede Demokratie. Eine „öffentliche Meinung“ zerstört die Öffentlichkeit selbst.

Gibt es Anzeichen für das Entstehen solch totalitärer „veröffentlichte“ Meinungen?

Flaig: Seit der Bankenkrise 2008 hat die deutsche Regierung immer häufiger ihre politischen Optionen als „alternativlos“ bezeichnet. Aber Alternativlosigkeit erzeugt das, was der Philosoph Julien Freund einst „Unpolitik“ nannte. Wozu es keine Alternative gibt, darüber läßt sich nicht mehr diskutieren. Darüber kann man auch nicht mehr entscheiden. Alternativlosigkeit verdinglicht die Sachzwänge und kastriert die Politik, indem sie diktatorisches Regieren erlaubt. Indes, Alternativen gibt es immer und überall. Alternativlosigkeit erfordert daher ein Diskussionsverbot, um fragwürdige Entscheide gegen Kritik zu immunisieren. Folglich muß man erstens den Andersdenkenden verbieten, ihre Argumente vorzubringen. Und man muß zweitens serienmäßig Pflichtlügen in Regierung und Parlament produzieren; und das erträgt keine Öffentlichkeit über längere Zeit. Denn der unterbrechungslose Gebrauch von Pflichtlügen schafft eine Atmosphäre der Verlogenheit, in der die Medien vollends alle Maßstäbe verlieren. Das illustrierten unsere Massenmedien 2014/15, als sie in großem Stil die Andersdenkenden mundtot machten, sie diffamierten und gegen sie hetzten. Die politische Hetze der letzten Jahre ist keineswegs als Wildwuchs im Internet entstanden; vielmehr ist sie eine genuine Leistung unserer Massenmedien. Die hetzten am meisten dort, wo sie mit moralischer Entrüstung die Verlogenheit in Gang hielten. Denn, wie Nietzsche sagt: „Niemand lügt so sehr als der Entrüstete.“ 

Können Sie Diskursformen nennen, die imstande sind, rationale Debatten abzutöten?

Flaig: Die Medien benutzen unentwegt asymmetrische Gegenbegriffe. Das ist eine rhetorische Technik, die der Historiker Reinhart Koselleck untersucht hat. Solche Begriffe spalten die Staatsbürger in ein „wir“ und ein „die“ dort; sie grenzen die anderen aus, indem sie ihnen geistige und moralische Mindeststandards absprechen. Sie mobilisieren die „Guten“ gegen das „Böse“. Solche Gegenbegriffe sind meist semantisch leer, bloße Nonsens-Worte. Die Schlagworte unserer Medien verdeutlichen das.

Zum Beispiel? 

Flaig: Auf der einen Seite ihrer Vokabelserien finden wir:  „rassistisch“, „fremdenfeindlich“, „populistisch“, „menschenverachtend“, „völkisch“, „dumpf“, „engherzig“, „angstbesessen“ sowie „Haß“, „Neid“, „Abschottung“, „Panikmache“, „Ängste schüren“; auf der anderen Seite stehen: „weltoffen“, „tolerant“, „vorurteilsfrei“, „menschenfreundlich“, „hilfsbereit“, „verantwortungsbewußt“. Wer auf der Einhaltung von Recht und Gesetz bestand, wurde „engherzig“ genannt, ihm fehle „Mitmenschlichkeit“. Wer die Verfassungsmäßigkeit des Regierungshandelns einklagte, agitierte „nationalistisch“. Wer auf die Kontrolle an den Grenzen bestand, betrieb bestenfalls „Abschottung“, oft auch „Rassismus“. Den Andersdenkenden wurden also nicht bloß moralische und intellektuelle Qualitäten abgesprochen, sondern psychische Defekte angelastet, verbunden mit „Angst“, „Phobie“, und „Panik“. Alle diese Vokabeln sind „Blindbegriffe“, Worte, die nichts Definiertes benennen. So etwa das Wort „Abschottung“: es bezeichnet an sich eine undurchlässige Abschließung. Kein Gegner der Grenzöffnung verlangte 2015, die Bundesrepublik „abzuschotten“. Trotzdem beschimpften Politiker und Medien mit dieser Unsinnsvokabel die Andersdenkenden. Desgleichen passierte mit dem Wort „fremdenfeindlich“: es diffamiert meist Menschen, die mehrere Sprachen sprechen, in fremden Kulturen bewandert sind und die Einwanderung von Ostasiaten begrüßen, aber die Zuwanderung von Muslimen ablehnen. „Fremdenfeindlich“ sind also großenteils Menschen, die fremdenfreundlich sind. Die gutmenschliche Leitideologie verkehrt den Wortgebrauch ins Gegenteil dessen, was seine Lexik aussagt. Solche „Blindbegriffe“ eignen sich vorzüglich zum Diffamieren und zur Hetze gegen Andersdenkende. Daher werden sie in einem noch nie dagewesenen Ausmaß benutzt. Der Preis, den wir dafür bezahlen werden, ist eine rapide Entintellektualisierung unseres politischen Lebens.

Ist es möglich, zum Thema Islam eine offene Debatte in Deutschland zu führen?

Flaig: Nein. Dazu zwei Themen: Der zunehmende Antisemitismus in manchen Ländern Europas ist ein fast rein muslimisches Phänomen. Das weiß jeder, der durch französische Vorstädte geht. Doch die Medien haben dieses schmutzige Faktum kontinuierlich und systematisch beschwiegen. Das gleiche gilt für den dramatischen Anstieg der Vergewaltigungen just in Ländern mit fortgeschrittener Frauenemanzipation wie Schweden und Norwegen. Die Massenmedien beschweigen oder verharmlosen. Die dominierende Strömung im deutschen Journalismus benutzt den Punkt 12.1 des Pressekodex, um die ethnische und religiöse Herkunft der Täter zu verschweigen. Das ist eine unverhohlene Zensur. Dieser lautet übrigens: „Die Zugehörigkeit Verdächtiger oder Täter zu religiösen, ethnischen oder anderen Minderheiten (wird) nur erwähnt, wenn ... ein begründbarer Sachbezug besteht. Besonders ist zu beachten, daß die Erwähnung Vorurteile ... schüren könnte.“

Ist das nur die Schuld der Medien? 

Flaig: Nein. Gravierender ist der Wandel des intellektuellen Klimas an den Universitäten. Dort sorgt eine postkoloniale Diskursmaschine dafür, daß zentrale Themen kaum noch wissenschaftlich zu traktieren sind. Es steht wissenschaftlich fest: Erstens verpflichtet die Scharia ihre Gläubigen dazu, den Dschihad zu führen, bis alle nichtmuslimischen Länder erobert sind; zweitens verlangt sie, überall die säkularen Staaten zu stürzen und Theokratien zu errichten – sei es in iranischer Form oder in Form eines allumfassenden Kalifats; drittens werden unter der Scharia alle Nichtmuslime zu Menschen zweiter Klasse. Der Scharia-Islam ist somit der gefährlichste Rechtsradikalismus der Gegenwart und der schlimmste Feind von Demokratie und Menschenrechten. Doch es ist nur an wenigen Flecken der akademischen Landschaft möglich, diesen kulturellen Sachverhalt zu erörtern.

Welche Rolle spielt die Europäische Union bei dieser Einschränkung der akademischen Freiheit?

Flaig: Ein kardinaler Punkt. Die eurokratische Politik der Antidiskriminierung ist bemüht, immer weitere öffentliche Äußerungen zu kriminalisieren. So bemängelt der Deutschland-Bericht der Europäischen Kommission gegen Rassismus und Intoleranz von 2013, es würden strafwürdige Äußerungen nicht geahndet, weil man hierzulande nicht verstehe, wo Rassismus beginne: „Rassismus wird in Deutschland häufig zu eng ausgelegt ... Der rassistische und besonders der fremdenfeindliche Charakter in Teilen der öffentlichen Debatte wird immer noch nicht ausreichend verdeutlicht.“ Nicht nur die Behörden der Europäischen Union, sondern vor allem die Behörden des Europarates folgen dem Konzept des „Rassismus ohne Rasse“, wonach jedwede Diskriminierung als Rassismus gelten kann. Daß damit der Begriff „Rassismus“ zum Idiotenwort wird, ist jedem denkenden Menschen klar. Doch genau solche Nonsens-Begriffe erlauben es, die Meinungsfreiheit anzugreifen. Derselbe Bericht verlangt von den Behörden, „alle Formen von Äußerungen zu sanktionieren oder sogar zu verbieten, die Haß auf der Basis von Intoleranz (einschließlich religiöser Intoleranz) verbreiten, dazu aufrufen, fördern oder rechtfertigen“. Dieser entgrenzte Toleranzbegriff widerspricht übrigens der Pariser Unesco-Erklärung von 1995, wonach man menschenrechtsfeindliche Praktiken und Ideologien nirgends tolerieren soll, egal ob diese religiös oder kulturell begründet sind. Würde die Richtlinie der Kommission gegen Rassismus in nationale Gesetze umgesetzt, dann hätten wir in Europa eine Unterdrückung der Meinungsfreiheit wie in den faschistischen oder stalinistischen Diktaturen. 

Sie sehen Europa vor dem Zerfall. Warum ist nach Ihrer Meinung die Abkehr vom Erbe der Antike der Grund dafür?

Flaig: Drei Besonderheiten konstituieren die moderne abendländische Kultur, nämlich das wissenschaftliche Denken, die Demokratie und die Menschenrechte. Wir werden diese drei nur bewahren, wenn uns bewußt ist, erstens daß wir sie sehr schnell verlieren können, zweitens daß sie um einen teuren Preis historisch errungen wurden. Zwei von diesen Errungenschaften verdanken wir der Antike, nämlich wissenschaftliches Denken und Demokratie. Alle drei aber sind nun in Europa bedroht. Wir driften weg von einem Gemeinwesen, das auf der Partizipation der Bürger ruht. Die eurokratische Diktatur ist auf eine neoliberale Weltordnung ausgerichtet. Und die braucht nur noch Gerichte, aber keine Staaten und keine Parlamente. Parallel dazu betreibt der Scharia-Islam überall in Europa die Errichtung einer theokratischen Ordnung. Wir verlieren nicht nur die Demokratie, sondern wir verlieren das Prinzip der Staatlichkeit überhaupt, wenn wir diesen Prozeß nicht stoppen. Wir können ihn aber nur stoppen, wenn wir uns erinnern, welchen immateriellen Wert das hat, was wir achtlos preiszugeben bereit sind. Verweigern wir diese Rückbesinnung – nicht bloß auf die Antike, aber vor allem auf sie –, dann wird, wie der Franzose Alain Finkielkraut es formulierte, die europäische Kultur an der Undankbarkeit der Europäer zugrunde gehen. 






Prof. Dr. Egon Flaig, der Publizist und Historiker lehrte zunächst in Freiburg und Göttingen, war am Max-Planck-Institut für Geschichte tätig und hatte eine Gastprofessur am Collège de France bei Pierre Bourdieu inne. Ab 1998 war er an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald und von 2008 bis zu seiner Emeritierung 2014 an der Universität Rostock Ordinarius für Alte Geschichte. Er veröffentlichte zahlreiche Essays etwa im Focus, der FAZ, NZZ, der Zeitschrift Merkur oder als Buch. Zuletzt erschienen die Bände „Weltgeschichte der Sklaverei“, „Die Mehrheitsentscheidung“,  „Gegen den Strom. Für eine säkulare Republik Europa“ und „Die Niederlage der politischen Vernunft. Wie wir die Errungenschaften der Aufklärung verspielen“. Geboren wurde Egon Flaig 1949 im württembergischen Gronau, nördlich von Stuttgart. 

Foto: Egon Flaig: „Die politische Hetze der letzten Jahre ist keineswegs als Wildwuchs im Internet entstanden; vielmehr ist sie eine genuine Leistung unserer Massenmedien“

 

weitere Interview-Partner der JF