© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

Es gibt ein anderes Leben im Jetzt
Science-fiction: An diesem Freitag startet die zweite Staffel der Amazon-Serie „The Man in the High Castle“
Karlheinz Weißmann

Die Freiheitsstatue zeigt den Hitlergruß, das Sternenbanner ein Hakenkreuz im blauen Feld, die Männer und Frauen der amerikanischen NS-Partei beherrschen das Bild, schwarze Uniformen und Braunhemden in der Öffentlichkeit, der Sicherheitsdienst kontrolliert das Leben bis in die letzten Winkel. Von Farbigen ist nichts zu sehen, die verbliebenen Juden leben angstvoll am Rande der neuen Volksgemeinschaft, wohl wissend, welches Schicksal ihnen drohen kann.

Abgesehen von den Repräsentationsbauten wirkt alles etwas schmuddelig. Wolkenkratzer bestimmen die Silhouette der Großstädte, Straßenkreuzer gleiten über den Asphalt, junge Frauen tragen Pferdeschwanz und Röcke in züchtiger Länge, junge Männer Jeans und Windjacke. Die Vereinigten Staaten eineinhalb Jahrzehnte nach ihrer Kapitulation von 1947. Triumphiert haben Deutschland und Japan, die die ehemaligen USA in zwei Besatzungszonen aufteilen.

Die Unterworfenen tun seitdem, was sie zu allen Zeiten tun: Manche kollaborieren aus Überzeugung, mehr aus Opportunismus, die meisten ziehen sich in die Unauffälligkeit zurück, demoralisiert durch die Niederlage und die Brutalität der Besatzer, nur eine Minderheit leistet Widerstand. Der hat sein Rückzugsgebiet in einer Art Niemandsland zwischen dem „Größeren Deutschen Reich“ im Osten und den „Japanischen Pazifikstaaten“ im Westen. Dort findet sich auch das Zentrum der Resistance, geführt von einer Art Altem vom Berge, der die Subversion vorantreibt, indem er Filme in Umlauf bringt, die das Unglaubliche zeigen: die siegreichen Truppen der Alliierten, die die Achsenmächte geschlagen haben.

Das ist der Rahmen für die Handlung der Serie „The Man in the High Castle“. Am 13. Januar wird Amazon mit der Ausstrahlung der zweiten Staffel in deutscher Fassung beginnen. Vor zwei Jahren war die Originalversion der Reihe die am häufigsten gesehene Eigenproduktion des Anbieters, was die Verantwortlichen dazu bewog, die Fortsetzung in Auftrag zu geben; mittlerweile wird die dritte Staffel vorbereitet.

Literarische Vorlage stammt von 1962

Im Mittelpunkt steht eine jugendliche Heldin, die nach der Ermordung ihrer Schwester durch die Geheimpolizei in den Untergrund geht. Ihr begegnet ein mysteriöser Fremder, der sie auf die eine oder andere Weise bei der Suche nach dem „Mann im hohen Schloß“ unterstützt oder – wahrscheinlicher– behindert. Seine Zwielichtigkeit hat damit zu tun, daß er von der allgewaltigen Führung des Sicherheitsdienstes als Agent benutzt wird.

Die Schilderung beschränkt sich aber nicht auf diese Ebene. Auf einer zweiten geht es um die internen Konflikte. Da möchte der SS-Obergruppenführer, sonst ein Mann kalter Entschlossenheit, die schwere Erkrankung seines Sohnes verbergen, um ihn vor der gesetzlich geforderten Euthanasie zu retten. Da gibt es eine innere Opposition bis in die höchsten Kreise des deutschen wie des japanischen Regimes, die verhindern will, daß der Kalte Krieg der beiden Supermächte in einen heißen umschlägt. Da faßt Heydrich, der offenbar überlebt hat, den Entschluß, den altersschwachen Hitler aus dem Weg zu räumen und den Endkampf um den Planeten zu führen.

In vielen Details sind diese Figuren und Ereignisse der Phantasie der Drehbuchautoren von Amazon entsprungen. Aber die Grundidee der Serie „The Man in the High Castle“ geht auf den gleichnamigen Roman des amerikanischen Autors Philip K. Dick zurück. 1962 veröffentlichte er das Buch, das heute als Klassiker der „Alternativen Geschichte“ gilt. Bis zum Erscheinen war Dick kaum hervorgetreten, trotz einer großen Zahl von Publikationen. Für seine konventionellen Arbeiten interessierte sich kein Verlag, anders als für die utopischen – genauer: dystopischen –, die er in rascher Folge schrieb.

Obwohl die literarische Qualität der Texte – immerhin 45 Romane und etwa 120 Kurzgeschichten – oft mäßig war, traf Dick einen Ton, der in der aufgewühlten Atmosphäre der sechziger Jahre gehört wurde. Die Zahl seiner Anhänger, die gerade von der düsteren Perspektive fasziniert waren, wuchs stetig. Schließlich wurden auch die großen Filmstudios aufmerksam. So erfolgreiche Produktionen wie „Total Recall“ (1990) und „Minority Report“ (2002) gehen auf Kurzgeschichten Dicks zurück. Der bekannteste Fall einer Adaption dürfte allerdings die Umsetzung von „Do Androids Dream of Electric Sheep?“ (1968) in „Blade Runner“ (1982) gewesen sein. Der Film wurde von Ridley Scott gedreht, der als Produzent auch die Verantwortung für die Serie „The Man in the High Castle“ trägt.

Obwohl sich die Handlung in „Blade Runner“ massiv von der Vorlage unterschied, war Dick begeistert. Das ist auch ein Hinweis darauf, daß er sein Werk weniger unter künstlerischen Gesichtspunkten betrachtete, eher als Auseinandersetzung mit seinem Zweifel an dem, was üblicherweise als Wirklichkeit gilt. Die Ablehnung der Zwangsläufigkeit von Geschichte war nur eine Facette dieser Grundhaltung, ein anderer die prinzipielle Skepsis gegenüber der Unterscheidbarkeit von dem, was ist und der Illusion, von Tatsächlichkeit und Möglichkeit. Gleichzeitig verstand er sich als eine Art Prophet, berufen die Menschheit vor den Folgen jener technischen Entwicklungen zu warnen, die es ganz unmöglich machen würden, Simulationen zu durchschauen.

Gestern Abseitiges erfährt heute Aufmerksamkeit

Dick, der sonst kaum sein Haus verließ, sich permanent verfolgt fühlte, dessen Psyche längst die Folgen von Drogenkonsum und Paranoia zeigte, nahm 1977 an einer Konferenz in Frankreich teil. Es gibt eine Aufnahme seines Vortrags, der unter Eingeweihten fast Kultstatus genießt. Der Inhalt ist eine merkwürdige Mischung aus Lebensbericht und Predigt, in dessen Zentrum zwei Feststellungen stehen: daß es ein „anderes Leben im Jetzt“ gibt, zu dem er, Dick, privilegierten Zugang habe; und daß sein Einblick den Schluß erlaube, daß das von uns gewöhnlich als Wirklichkeit Wahrgenommene gar keine Wirklichkeit ist: „Wir leben in einer computergenerierten Realität“, sagte Dick, „und das merken wir erst, wenn eine Variable sich ändert …“

Der Satz erscheint heute eher trivial, hat aber zum damaligen Zeitpunkt überraschend gewirkt. Und das, obwohl die Vorstellung, daß es Androide nicht nur geben könne, sondern sie auch feststellen könnten, daß sie Androiden seien – also menschenähnliche Maschinen und keine Menschen –, zu dieser Zeit schon einen Platz in der Science-fiction-Literatur hatte. Der Roman „Simulacron-3“ eines anderen amerikanischen Autors, Daniel F. Galouye, erschien 1964, kaum zehn Jahre später folgte die aufsehenerregende Verfilmung durch Rainer Werner Fassbinder mit dem Fernseh-Zweiteiler „Welt am Draht“ (1973). Das lag alles lange vor den Erfolgen der „Matrix“-Reihe, die seit dem Ende der neunziger Jahre mit großem Erfolg in den Kinos lief, aber das Thema im Grunde nur noch variierte.

Auch insofern bleibt der anhaltende Erfolg der Romane Dicks bemerkenswert. Nicht nur weil sie einem zu Lebzeiten weniger beachteten Autor zu solchem Nachruhm verhalfen, sondern auch weil man an dem postumen Vorgang ablesen kann, wie das Abseitige von gestern ins Zentrum der aktuellen Aufmerksamkeit vordringt, wie Vorstellungen der Subkultur zum Inhalt der dominierenden Kultur werden, weil die eben noch absurde Idee überraschend Plausibilität gewinnt. Selbst wenn es um eine Feststellung geht wie Dicks These, daß „in der Welt etwas nicht stimmt“, – grundsätzlich nicht.