© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 03/17 / 13. Januar 2017

Er will allen alles geben
Klassik: Der Startenor Jonas Kaufmann ist dabei, seine Stimme zu ruinieren
Markus Brandstetter

Der deutsche Startenor Jonas Kaufmann ist seit Wochen krank und hat bis Mitte Januar alle Termine absagt – auch die Eröffnungskonzerte in der Hamburger Elbphilharmonie, vielleicht das wichtigste Ereignis der klassischen Musik in diesem Jahr in Deutschland. Seit Juli 2016 hat Kaufmann Auftritte im Festspielhaus Baden-Baden, an der Pariser Oper, der Bayerischen Staatsoper, im Mannheimer Rosengarten, in Tokio, Monte Carlo und in Stockholm beim Nobelpreiskonzert nacheinander abgesagt. Kaufmann ist nicht zum ersten Mal krank. Bereits zwischen Dezember 2015 und März 2016 war er wegen Krankheit ausgefallen, so wie er auch im Jahr 2012 bereits monatelang nicht singen konnte und eine Japan-Tournee hatte absagen müssen. 

Auf seiner Internetseite begründet der Sänger die aktuellen Absagen mit den Nebenwirkungen eines Medikamentes, durch die beim Singen ein Äderchen auf dem Stimmband geplatzt sei. 2012 hatte die Begründung gelautet: Jonas Kaufmann kann nicht auftreten, weil er eine Zyste auf den Stimmbändern hat. Aus der Zyste wurden damals dann ein Pilz und endlich ein hartnäckiger Infekt. Die Krankheiten häufen sich also, und je öfter sie auftreten, desto schwieriger wird es werden, sie mit ganz normalen Infekten und den ewigen Vergleichen mit Enrico Caruso, der sich wegen Knötchen auf den Stimmlippen einer Operation unterziehen mußte, zu erklären. 

Viel eher als diese harmlosen kleinen Wehwehchen, die Kaufmanns Management jedesmal zähneknirschend einräumt, kommen insgesamt drei andere, viel gravierendere Ursachen für Kaufmanns Probleme mit der Stimme in Frage: Da ist einmal der mörderische Opern- und Festspieltourismus, der moderne Sänger zehnmal im Jahr und öfter rund um den Globus schickt. Das ist ein Problem, mit dem alle Weltstars der Oper, von Rolando Villazón über Anna Netrebko bis zu Juan Diego Flórez, zu kämpfen haben. Ein paar Beispiele: Flórez wird nur in der ersten Jahreshälfte 2017 in Moskau, Wien, München, Valencia, Birmingham, Paris, Zürich, New York, London, Madrid und Marseille zu hören sein, darunter in einer so schwierigen Oper wie „La Sonnambula“ von Bellini. Bei Jonas Kaufmann heißen die Stationen zwischen Januar und Juli 2017: Hamburg, Paris, London, München, Paris, Dubai, Wien, wieder Hamburg und nochmal London.

Auch wenn diese Superstars der Oper natürlich First Class fliegen, überall vom Flughafen abgeholt werden und man ihnen in den besten Hotels jeden Wunsch von den Augen abliest – es bleibt trotzdem eine ungeheure Anstrengung. Große Opernsänger verbringen mehr Zeit in Flugzeugen und Hotels als mit ihrer Familie. Und gerade in den modernen Langstreckenflugzeugen ist die Luft immer extrem trocken und kalt, was Gift für jede Stimme ist.

Mal Wagner-Heldentenor, mal lyrischer Mozarttenor

Natürlich sind Opernsänger auch früher schon um die Welt gereist – Tenöre wie Caruso, Gigli, Schipa und Björling haben den Atlantik viele Male überquert. Aber eben mit dem Dampfer, wodurch Stimmbänder, Kehlkopf und auch die Psyche tagelang Zeit hatten, sich an das veränderte Klima und die neue Umgebung zu gewöhnen. Bis vor dreißig, vierzig Jahren waren Opernsänger oft viele Jahre an bestimmte Häuser gebunden, konnten da ihr Quartier aufschlagen und Rollen für ihr Stimmfach planen, einüben und mit den immergleichen Dirigenten eine, oft aber auch mehrere Saisonen lang singen. Das sorgte für genau jene Planbarkeit, Ruhe, Konzentration und ein geordnetes Familienleben, das ein Opernsänger braucht, um seine Stimme zu entwickeln und zu erhalten.

Kaufmanns zweites Problem liegt darin, daß er allen alles geben will. Damit ist gemeint: Kaufmann ist an einem Tag der Heldentor in Wagner-Rollen, der als Lohengrin, Tannhäuser oder Wal

ther von Stolzing zwar keine hohen Spitzentöne produzieren, aber stundenlang Wagners lautes Riesenorchester übersingen muß. In der nächsten Woche schlüpft Kaufmann dann in die Maske des lyrischen Mozarttenors, der mit geschmeidig-biegsamer Stimme Schubert-Lieder und Rollen wie den Idomeneo aus der gleichnamigen Mozart-Oper, Tamino aus der „Zauberflöte“ oder den Bacchus aus Richard Strauss’ „Ariadne auf Naxos“ singt.

In einer dritten Woche macht Kaufmann dann nochmals eine Metamorphose durch und wird zum Spinto, dem italienischen Äquivalent zum jugendlichen Heldentenor, und gibt den Andrea Chenier in Giordanos gleichnamiger Oper, Manrico in Verdis „Trovatore“ oder den Cavaradossi in Puccinis „Tosca“. Kaufmann will also ein Heldentenor wie René Kollo, ein lyrischer Mozarttenor wie Fritz Wunderlich und ein italienischer Spinto-Tenor wie Luciano Pavarotti sein – und das alles in einer Person. Das geht nicht, und so etwas hat es in der Geschichte der Oper auch noch nie gegeben.

Aber im Falle Kaufmanns gibt es noch einen dritten Faktor, der die Stimme strapaziert – einen Faktor, den so kein anderer Sänger hat. Jonas Kaufmann ist nämlich kein echter Tenor, sondern ein Bariton. Wohl ein Bariton mit tenoralen Höhen, aber ein Bariton. Das zwingt ihn dazu, seine Stimme permanent überzustrapazieren.

Er verfügt über kein echtes hohes C

Kaufmann verfügt nicht über einen gut sitzenden Naturtenor wie zum Beispiel Jussi Björling, Mario del Monaco oder René Kollo. Von Fritz Wunderlich, mit dem man Kaufmann sowieso nicht vergleichen kann, gar nicht zu reden. Das merkt man ganz eindeutig daran, daß Kaufmann über kein echtes hohes C verfügt – und über Töne darüber noch viel weniger. Im Endeffekt hat der Sänger mit allen Tönen über dem E ein Problem, und zwar insbesondere dann, wenn er diese Töne frei attackieren muß, also aus einer tieferen Note ohne Übergang auf den hohen Ton springen muß. Deshalb wäre es Kaufmann ganz unmöglich, die Cavatine „Ah mes amis“ aus Donizettis Regimentstochter, in der der Sänger neunmal einen Oktavsprung auf das hohe C auszuführen hat, zu singen.

Die Behauptung, daß Kaufmann ein Bariton ist, ist weniger kühn (oder unsinnig), als sich das anhört. In Wirklichkeit sind die Grenzen zwischen Tenor und hohem Bariton nämlich fließend, was man allein daran sieht, daß einige berühmte Tenöre wie Renato Zanelli, Ramón Vinay oder Placido Domingo als Baritone begonnen haben, während hohe Baritone wie Josef Metternich und Sherrill Milnes mühelos Spitzentöne wie das A oder sogar das B unter dem hohen C erreichten.

Jonas Kaufmann ist ein sympathischer Künstler, der sich bemüht, allen gerecht zu werden, aber im Moment ist er dabei, seine Stimme zu ruinieren. Weder das Tempo, mit dem er heute um die Welt jettet, noch die dauernden Stimmfachwechsel wird er noch lange durchhalten. Giuseppe Di Stefano, Luciano Pavarotti und jüngst Rolando Villazón, die alle früh ihre grundsätzlich prächtigen Stimmen verschlissen haben, sollten ihm eine Warnung und Carlo Bergonzi und Nicolai Gedda, von denen jeder seine Stimme fünfzig Jahre lang erhalten hat, ein Vorbild sein.