© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

„Egozentrische Züge“
NSU-Prozeß: Mit zahlreichen Verfahrensanträgen wurde die Aussage des psychiatrischen Gutachters verzögert / Risiko für Zschäpe
Hinrich Rohbohm

Es ist ein zermürbendes Ritual, das sich den Zuhörern des NSU-Prozesses derzeit vor dem Münchner Oberlandesgericht bietet. Immer wieder aufs neue versucht der Vorsitzende Richter Manfred Götzl mit der Anhörung des Sachverständigen Henning Saß fortzufahren, der zu seinem forensisch-psychiatrischen Gutachten über Beate Zschäpe aussagen soll. Regelmäßig ruft das jedoch die Anwälte der Hauptangeklagten auf den Plan, die das Gericht dann mit Anträgen regelrecht bombardieren. Mal ist es ein Ablehnungsgesuch gegen den Gutachter, ein anderes Mal ein Befangenheitsantrag gegen die Richter. An einem anderen Verhandlungstag fordern sie einen Gegengutachter, dann wiederum, Tonaufnahmen bei der Aussage des Sachverständigen zuzulassen. 

„Eindruck fehlender  Betroffenheit ist falsch“

Der Ablauf ist hierbei stets der gleiche. Das Gericht vertagt sich, legt eine Pause ein, um über die Anträge der Verteidigung zu beraten. Genervtes Aufstöhnen unter Zuschauern ebenso wie unter den berichtenden Journalisten. Nach manchmal stundenlangem Warten verkünden die Richter ihre Entscheidung. Meistens lautet sie Ablehnung, und das Ritual beginnt von neuem. Manfred Götzl nimmt das dann mit einem schon recht müde wirkenden Lächeln zur Kenntnis, während er seinen Kopf mit der linken Hand stützt und geduldig den Ausführungen der Anwälte lauscht. Seit einem Monat geht das nun so. Doch noch immer läßt die Aussage des ehemaligen Leiters der Forensischen Psychiatrie an der Universität München auf sich warten. 

Der Grund der Antragsflut ist für Beate Zschäpe äußerst heikel. Denn in seinem dem Gericht bereits vorliegenden Gutachten hält Saß die 41jährige für voll schuldfähig und ihre von den Verteidigern verlesenen Aussagen, wonach sie sich dem Willen der mutmaßlichen Mörder Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nicht entziehen konnte, für nicht glaubwürdig. Sollte das Gericht das ebenso sehen, lägen auch die Voraussetzungen für eine Sicherungsverwahrung Beate Zschäpes vor. Mit anderen Worten: Die Beschuldigte müßte vielleicht den Rest ihres Lebens hinter Gittern verbringen. 

In dem Gutachten benennt Saß ihre Emotionslosigkeit, ihr kategorisches Wegdrehen vor Prozeßbeginn und ihre Teilnahmslosigkeit während des Prozesses, bei dem sie sich zumeist mehr mit ihrem Laptop als mit dem Verfahrensverlauf beschäftigt habe, als Angehörige der Opfer vor dem Staatsschutzsenat sprachen. 

Es sind vor allem diese Passagen des Gutachtens, die die Verteidigung mit einer neuerlichen Erklärung Zschäpes zu entkräften versucht. „Der Eindruck fehlender Betroffenheit ist falsch“, läßt sie von ihrem neuen Anwalt Mathias Grasel verlesen. „Aus Angst vor einer Prozeßunfähigkeit habe ich versucht, einen öffentlichen Zusammenbruch zu verhindern.“ Geraune unter den Zuhörern. Es sei vielmehr der Rat ihrer Altverteidiger Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm gewesen, Gefühlsbekundungen und Zeichen der Anteilnahme zu vermeiden. Daher habe sie gegenüber den Zeugen keine Gefühle zeigen können. Doch auch jetzt sind von ihr keine Emotionen zu sehen. Keine Träne fließt, keine Änderung der Miene im Vergleich zu den vorherigen Prozeßtagen zu erkennen. Und so wirkt die Erklärung letztlich wie von Anwälten aufgesetzt, um so die Auffassungen des Gutachters zu entkräften. 

Der ist ebenfalls bemüht, seine Gemütslage zu verbergen. Daß der schleppende Fortgang des nun schon fast vier Jahre andauernden NSU-Prozesses vor dem Münchner Oberlandesgericht nicht spurlos an ihm vorbeigeht, läßt sich allenfalls an seinem etwas unruhig wirkenden Hin- und Herlaufen im Saal während der Verhandlungspausen erahnen. 

Der 72jährige sieht bei Zschäpe „anti-soziales Verhalten“ und „egozentrische Züge“ vorliegen, will zudem auch eine Persönlichkeitsstörung nicht ausschließen und erkennt bei ihr eine „Neigung zum Verdrängen.“ Maßgebend ist für den Staatsschutzsenat jedoch nicht das schriftlich vorliegende Gutachten, sondern die von Saß im Gerichtssaal vorgetragenen Aussagen. 

Und so sprechen Zschäpes Verteidiger von „schweren methodischen Fehlern“, bezeichneten Saß gar als „fachlich ungeeignet“. Schließlich hatte es Zschäpe abgelehnt, sich von Saß befragen zu lassen, weshalb die Verteidiger auch keine seriöse Grundlage für ein Gutachten sehen. Tatsächlich mußte sich Saß auf seine Beobachtungen beschränken, da Zschäpe mit ihm nicht kooperierte. „Es ist berechtigt, eine Befragung abzulehnen“, argumentiert Wolfgang Heer, der zudem kritisiert, daß nur ein Sachverständiger hinzugezogen wurde. Zschäpes Anwälte fordern daher ein weiteres Gutachten, das Professor Pedro Faustmann von der Ruhr-Universität Bochum erstellen soll. Darüber hinaus sollen die Aussagen von Saß entweder von einem Stenographen oder einem „berufsmäßigen Tastschreiber“ aufgenommen werden. 

Ein Vorschlag, der bei der Bundesanwaltschaft auf Widerspruch trifft. „Wir sehen dazu keine Veranlassung.“ Allerdings sei es der Verteidigung ja freigestellt, „auf eigene Kosten“ einen Stenographen hinzuzuziehen. Bis zum Redaktionsschluß der JUNGEN FREIHEIT hatte die Aussage von Gutachter Saß vor Gericht noch nicht begonnen. 

Die Bundesanwaltschaft geht davon aus, daß innerhalb der nächsten sechs Monate ein Urteil gesprochen werden kann. Das Münchner Gericht hat für den Prozeß noch Verhandlungstage bis September dieses Jahres angesetzt.