© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

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Abschiebungen I: Seit dem Berliner Terroranschlag fordern Bundespolitiker schnellere Abschiebungen – ihre Ausführung bleibt bei den Kommunen hängen
Martina Meckelein

Der Duden erklärt das schwache Verb „dulden“ folgendermaßen: „... aus Nachsicht fortbestehen lassen, ohne ernsthaften Widerspruch einzulegen oder bestimmte Gegenmaßnahmen zu ergreifen“. Geduldet worden war auch der Attentäter des Berliner Breitscheidplatzes Anis Amri, der, wie sich herausstellte, ein vor Jahren abgelehnter, nicht abgeschobener, aber dafür geduldeter Asylbewerber aus Tunesien war. Über die Jahre hatte er sich mit 14 verschiedenen Identitäten durch Deutschland geschnorrt. 

Ein medialer Super-GAU für die Politik. Nach anfänglichem Schweigen überbieten sich – vier Wochen nach dem Terroranschlag – plötzlich Bundespolitiker in ihren Forderungen nach schnellerer, rigoroserer, gnadenloserer Abschiebung. 

„Das Aufenthaltsgesetz ist ein Berliner Textmonster“

In größter Hektik werden Forderungen zusammengezimmert. So verlangt Thomas Strobl (CDU), Innenminister von Baden-Württemberg, in der Welt eine unbeschränkte Abschiebehaft für Gefährder und Kriminelle und geht damit weit über die Forderungen von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) und Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) hinaus, die sich darauf geeinigt hatten, jetzt auch Gefährder in Abschiebehaft zu nehmen – allerdings mit einer gesetzlichen Höchstdauer von 18 Monaten.

Vor diesem Hintergrund erklärt sich, daß der Innenstaatssekretär in Hessen, Werner Koch, während eines kurzfristig anberaumten Treffens zum wiederholten Male Beamte aus den Regierungspräsidien eingenordet hat, schnellstens geduldete Asylbewerber abzuschieben. Denn für die Rückführung dieser Klientel sind genau diese Behörden verantwortlich. 

Ein hessischer Beamter mahnt gegenüber der JUNGEN FREIHEIT: „In der Hauptstadt reden die von einem nationalen Kraftakt. Zuständig sind allerdings wir in den Ländern. Wie das bei den vielen gesetzlichen Abschiebehindernissen gehen soll, sagt uns keiner. Insoweit herrscht allgemeine Ratlosigkeit. Aktionismus ist wie so oft angesagt, der Druck wird schlicht nach unten weitergegeben!“

Ungeklärt scheint grundsätzlich, nach welchen völkerrechtlichen Verträgen Herkunftsländer überhaupt verpflichtet sind, ihre Landeskinder zurückzunehmen. Und wer stellt fest, aus welchen Teilen der Welt etwa der paßlose Flüchtling tatsächlich kommt? 

„Paragraph 60a Aufenthaltsgesetz, ein Berliner Textmonster, regelt geradezu liebevoll dezidiert, wann Duldungen auszusprechen sind“, so der Beamte. „Dies sind insbesondere Fälle, in denen eine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen zunächst nicht durchgeführt werden kann. Das trifft auf Tausende zu. Die Duldung dient ausschließlich dazu, dem Ausländer zu bescheinigen, daß er ausländerbehördlich registriert ist und von einer Durchsetzung der bestehenden Ausreisepflicht für den genannten Zeitraum abgesehen wird.“

Von den über 215.000 ausreisepflichtigen Asylbewerbern in Deutschland wurden bis Ende November lediglich 23.700 abgeschoben. Einige der Hindernisse: Petitionen, Schwangerschaft, krankheitsbedingte Reiseunfähigkeit, ein verlorener Paß oder eine strittige Staatsangehörigkeit

In Hessen sind die drei zentralen Ausländerbehörden zuständig, die bei den drei Regierungspräsidien in Gießen, Kassel und Darmstadt angegliedert sind. Gießen ist für die rückzuführenden Asylbewerber zuständig, die keine Bleibeperspektive haben und noch in einer Erstaufnahmeeinrichtung sitzen.  „Die kann man aber insofern vergessen, weil deren asylrechtlicher Status geklärt werden muß und die meisten deshalb ohnehin nicht abgeschoben werden können“, so der Beamte.

„Problematisch sieht es auch bei denen aus, die nur deshalb geduldet sind, weil sie keine Ausweispapiere haben. Gerade da werden die zuständigen Behörden vom Auswärtigen Amt alleine gelassen. So befassen sich die Ausländerbehörden vor Ort immer wieder mit straffälligen jungen Männern ohne Paß, etwa solchen, die aus Somalia kommen. Wie deren gebotene Rückführung gelingen soll, müssen die Beamten vor Ort über Monate oft mühsam selbst mit den Konsulaten und Botschaften klären. Oft genug gibt es keine Lösung, so daß eine Rückführung unmöglich scheint.“

Seit dem 1. August 2016 steht Somalia auf der Liste der Herkunftsländer mit guter Bleibeperspektive. In Somalia herrscht seit 1991 Bürgerkrieg. Mit 3.260 Asylanträgen betrachtet das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge Personen aus Somalia als relevante Anzahl. Die Chance auf Schutzgewährung nach Deutschland geflohener Menschen liegt mit 68,5 Prozent deshalb weit über fünfzig Prozent – jener Wert, ab dem die Behörde ein Land als relevant einstuft.

Ausreisepflichtige kosten drei Milliarden Euro 

Wie sollen Menschen aus Somalia, die in Deutschland nur eine Duldung haben, in dieses Bürgerkriegsgebiet abgeschoben werden? In solche Länder kann nicht abgeschoben werden. „Da hilft dann auch Aktionismus eines ohnmächtigen Staatssekretärs nicht wirklich weiter“, sagt der Beamte.

Für die Bundesregierung hat die Unternehmensberatung McKinsey einen Plan erstellt, um mehr Abschiebungen durchzusetzen – und das kostengünstig. Die Welt schreibt: „Zentraler Verbesserungsvorschlag ist ein ‘integrierter Ansatz’ aus restriktiver Vergabe einer Duldung, konsequenter Rückführung und flächendeckender Förderung der freiwilligen Rückkehr.“ 

Das Unternehmen schätzt die Gesamtkosten für die Finanzierung aller ausreisepflichtigen Asylbewerber auf rund drei Milliarden Euro – und das allein für das Jahr 2016. Kein Wunder, daß Berlin sie loswerden will. „Nur, wie die Ausländerbehörden das schaffen sollen, zumal den hessischen Regierungspräsidien seit Jahren kontinuierlich das Personal gekürzt wird, verrät der Staatssekretär nicht.“