© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Thalers Streifzüge
Thorsten Thaler

Der Chor ist der Star. Namenlose Frauen und Männer stellen sogar Plácido Domingo in den Schatten. So geschehen am ersten Januar-Wochenende in Verdis Oper „Nabucco“. Die live aus der New Yorker Metropolitan Opera (Met) übertragene Aufführung erzielte einen Rekord an Kinokassen in Deutschland und Österreich. Rund 50.000 Zuschauer hätten die Inszenierung mit Plácido Domingo in der Titelpartie erlebt, teilte der Vertrieb Clasart Classic vorige Woche in München mit. Dazu dürfte wesentlich die Bekanntheit des auch nicht passionierten Opernhörern geläufigen Gefangenenchors („Flieg, Gedanke, auf goldenen Schwingen,/ flieg, umschwebe die Hügel, die Höhen,/ wo die linden, die fächelnden Lüfte/ süß und weich in sich tragen der Heimaterde Duft“) beigetragen haben. In New York zeigte sich das Publikum jedenfalls so begeistert von dem Lied aus dem dritten Akt, daß Dirigent James Levine – wie schon 2001 bei der „Nabucco“-Premiere dieser Inszenierung von Elijah Mo-shinsky – ein da capo verordnete. Der Gefangenenchor erklingt also gleich zweimal hintereinander. 


Die junge Mutter, Mitte Zwanzig, ist völlig genervt und überfordert. Ihr vielleicht fünfjähriger Sohn quengelt, heult und schreit in der U-Bahn aus Leibeskräften. Seine Mutter redet auf ihn ein, versucht ihn zur Räson zu bringen, offensichtlich ist ihr die Szene peinlich. Doch der Kleine bleibt bockig. Zwei Stationen weiter ist die Mutter endgültig mit ihrem Latein am Ende. Sie greift zum Telefon, sagt zu dem Quälgeist: „So, ich rufe jetzt Oma an und sage ihr, daß du ein schwer erziehbares Kind bist.“ Den Jungen beeindruckt das nur mäßig. Zwar läßt er einen langgezogenen „Neiiiiin“-Schluchzer hören, aber beruhigen will er sich keineswegs.


In dem launig-augenzwinkernden „einzig wahren Opernführer“ von Wolfgang Körner (Rowohlt Taschenbuch, 2007) heißt es zu „Nabucco“, der Gefangenenchor sei ein solcher Hit, daß man hier, „im Gegensatz zu vielen Opern ohne Hits, zur Abwechslung mal von einem Hit ohne Oper sprechen könnte“.


Das Erziehungsdrama setzt sich bis auf den Umsteigebahnhof fort. Dort will der kleine Derwisch partout nicht an der Hand seiner Mutter laufen. Wütend stampft er mit den Füßen auf, zieht und zerrt, bis sie ihn schließlich losläßt. Die junge Frau kann einfach nicht mehr. Und während der Bengel zornig umherstrolcht, verdrückt seine Mutter verstohlen einige Tränen.