© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Nun ist es so weit. In Roms Altstadtviertel Borgo Pio hat McDonald’s eine Filiale eröffnet. Das Quartier gehört zum Vatikanstaat – die Via della Conciliazione, an der das mehr als 500 Quadratmeter große Ladengeschäft liegt, führt direkt auf den Petersplatz –, aber selbst die Intervention eines örtlichen Komitees beim Papst blieb vergeblich. Alle gesetzlichen Vorschriften würden eingehalten, bemerkte der für die Immobilienverwaltung zuständige Kardinal.

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Wenn man eine Bilanz der Silvesterdebatte zieht, dann bleibt vor allem der Eindruck von Verstörung in den Reihen des Establishments. Wahrscheinlich bedauert der Kölner Polizeipräsident längst seine eilfertige Entschuldigung für die Verwendung des Nafri-Kürzels, und die Spitzengrüne Peter wird in Zukunft etwas vorsichtiger sein, wenn sie sicher glaubt, die übliche Klaviatur der öffentlichen Empörung spielen zu können. Dagegen haben die Özdemirs, Gabriels und Oppermanns gezeigt, was politischer Instinkt ist: die Fähigkeit, Witterung aufzunehmen, den Wandel zu spüren, bevor er da ist, den Tonfall und die Wortwahl zu wechseln, Positionen zu räumen, bevor sie unhaltbar sind, Verbündete aufzugeben, die zur Belastung werden.

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Die Untersuchungen zum Thema „Öffentliche Meinung“ konzentrieren sich gemeinhin auf die Mechanismen, die zu deren Erzeugung führen, und die Mittel, die deren Kontrolle erlauben. Angesichts der Frage, warum eine „Öffentliche Meinung“ umschlägt, stehen sie hilflos. Im nachhinein wird man natürlich feststellen, daß „das Pendel zurückschlug“, daß die Lage sich änderte, daß einflußreiche Gruppen dieses oder jenes taten und Metapolitiker seit langem am Werk waren. Aber weshalb diese Faktoren in einer konkreten Situation zur Geltung kommen, bleibt ein ungelöstes Rätsel.

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Bildungsbericht XCVII in loser Folge: „Alle pädagogischen Probleme sind alt. Alle pädagogischen Probleme sind antinomisch, also nicht in einem Handstreich zu lösen. Das Wissen um die heterogenen Verhältnisse gehört zu den elementarsten anthropologischen Erkenntnissen, die zu erkennen es der Wissenschaft eigentlich gar nicht bedurft hatte.“ (Winfried Böhm, Professor emeritus für Pädagogik)

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Der amerikanische Psychologe Matthew D. Lieberman hat darauf hingewiesen, daß der Begriff „Naiver Realismus“ im Laufe der Zeit seine Bedeutung verkehrt hat. Ursprünglich wurde damit zum Ausdruck gebracht, daß Menschen – durchschnittlicher Intelligenz, auch ohne höhere formale Bildung – in der Lage sind, die Welt auf angemessene Weise zu begreifen und zu interpretieren. Heute versteht man unter „Naiver Realismus“ die fehlende Einsicht in den Konstruktionscharakter jener üblichen Sicht, die uns Schnürsenkel schließen, Essen kochen, Bäume besteigen oder sicher einparken läßt. Als Kognitionswissenschaftler hält Lieberman die Fixierung der meisten auf den „Naiven Realismus“ für fatal und empfiehlt ein Mehr an Reflexion. Die soll uns skeptischer machen im Hinblick auf unsere Urteilsfähigkeit, etwa was die Charaktereigenschaften von Obama oder Trump angeht, die wir letztlich nicht kennen können. Man würde mit viel größerer Begeisterung beipflichten, wenn da nicht zwei Vorbehalte wären: zum einen die Ahnung, daß die Alternative zum „Naiven Realismus“ wohl in jener Art von „Kritikfähigkeit“ läge, die sich noch regelmäßig als untauglich erwiesen hat, und zum anderen dann die Feststellung, daß Intuition und „gesunder Menschenverstand“ in so vielen Fällen bessere Entscheidungen begründen als die Maßgaben der Spezialisten und der Experten, die für sich in Anspruch nehmen, fern jeder Naivität die Dinge zu beurteilen.

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Der Zivilist: „Worin bestand denn der Unterschied zwischen dem Einsatz in Afghanistan und dem in Mali?“ Der Soldat: „Mali ist bunter.“

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Es ist doch bezeichnend, wieviel heftiger die Debatten waren, die das „Schwarze Silvester“ 2015 ausgelöst hatte, als die Auseinandersetzung, die nach dem Anschlag von Berlin geführt wurde. Man kann das auf die geschickte Regie der politischen Spitze zurückführen, auch darauf, daß man den Deutschen systematisch aberzogen hat, sich als „Opfer“ zu sehen, aber es könnte auch sein, daß sich stille Wut ausbreitet; bekanntermaßen die gefährlichste Art der Wut.

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Die Bedeutung des Parteiaustritts der CDU-Bundestagsabgeordneten Erika Steinbach liegt bestimmt nicht darin, daß nun das entscheidende Signal für die in der Union verbliebenen Konservativen gesetzt wurde. Soweit es sie noch gibt, haben die sich längst eingerichtet oder spielen keine politische Rolle. Das Beste, was man hoffen darf, ist das Vorhandensein des einen oder anderen „Schläfers“, der auf den Tag nach Merkel wartet und längst ahnt, daß die Spielregeln, die wir aus der alten Bundesrepublik mitgeschleppt haben, nicht mehr gelten.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 3. Februar in der JF-Ausgabe 6/17.