© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Erdrückendes Schuldgefühl
Filmdrama: Kenneth Lonergan erzählt in „Manchester by the Sea“ von einem Einzelgänger, der sich seiner Vergangenheit stellen muß
Wolfgang Paul

Ein menschenscheuer Hausmeister ist Lee Chandler. Ob bei den Mietern in dem Bostoner Wohnblock, von denen er zu Reparaturen gerufen wird, oder bei seinem Arbeitgeber, immer bleibt er unnahbar, und bei Beschwerden wird er ruppig. Daß dieser  Einzelgänger von einem Schuldgefühl geplagt wird, erfährt man erst nach einer langen Reihe von Szenen aus seiner Vergangenheit. Der Film verschließt sich zunächst dem Betrachter wie seine Hauptfigur ihrer Umwelt.

Casey Affleck hat für die eindringliche Interpretation dieses Einzelgängers den Golden Globe als bester Hauptdarsteller in einem Drama gewonnen. Das ist eine Überraschung, denn der Auslandspresseverband Hollywood belohnt, ähnlich den in der Filmproduktion beschäftigten Nachbarn bei deren Oscar-Verleihung, in der Regel spektakuläre Auftritte.

Spektakulär ist „Manchester by the Sea“ allenfalls deshalb, weil Autor und Regisseur Kenneth Lonergan uns ohne die üblichen Inszenierungstricks, die das Kino oft aufbietet, in eine persönliche Tragödie hineinzieht. Es ist Lonergans dritte Regiearbeit, und wie die beiden zuvor geht es um traumatische Erfahrungen, um Schuld, die nicht verarbeitet wurde oder verarbeitet werden konnte. In „You Can Count on Me“ kämpft ein erwachsenes Geschwisterpaar mit dem Verlust der Eltern, den es auch nach vielen Jahren nicht verwunden hat, und in „Margaret“ (hierzulande nicht im Kino) verdrängt eine junge Frau die eigene Schuld an einem tödlichen Busunfall. Jetzt verhandelt Lonergan das genaue Gegenteil davon: ein erdrückendes Schuldgefühl, wie wir es in dieser protestantischen Intensität sonst nur bei Ingmar Bergman finden.

Ausgangspunkt ist der sich lange ankündigende Tod von Lees Bruder Joe (Kyle Chandler), der den Hausmeister zurück in sein Heimatstädtchen Manchester-by-the-Sea nördlich von Boston bringt. Plötzlich wird die Vergangenheit wieder lebendig, auch im Ort erinnert man sich an ihn.

Joe, der sich zu Lebzeiten immer um seinen jüngeren Bruder gekümmert hat, eröffnet ihm sogar in seinem Tod eine Chance, aus der selbstgewählten Isolation herauszukommen. Er hat ihn im Testament zum Vormund seines 16jährigen Sohnes Patrick (Lucas Hedges) bestimmt. Für Lee eine Zumutung, etwas, das so gar nicht in sein Leben paßt. Doch wie sich Onkel und Neffe bei den Bestattungsvorbereitungen zusammenraufen und einander akzeptieren lernen, das gehört zu den großen Kinoerfahrungen. Und Lonergan ist auch intelligent genug, seine Geschichte nicht verlogen enden zu lassen.