© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 04/17 / 20. Januar 2017

Der Wahn der Selbstzerstörung
Zum politischen Testament des deutschen Universalhistorikers Rolf Peter Sieferle
Wolfgang Müller

Rolf Peter Sieferle, „der Unerschrockene“, habe sich auch dann nicht aus der Ruhe bringen lassen, wenn er als ein von der Vergangenheit belehrter Historiker für die Zukunft „apokalyptische Möglichkeiten erwog“. Ob Gustav Seibt, als er in seinem Nachruf diesem Pionier der Umweltgeschichte und an Hegel und Marx geschulten Zivilisationskritiker (Süddeutsche Zeitung vom 8. Oktober 2016) jene von den alten Griechen bewunderte Ataraxie, die seltene Gabe, allen Widrigkeiten des Lebens mit Seelenruhe zu trotzen, attestierte, gewußt hat, daß der 67jährige Gelehrte angesichts der „gezielten Selbstzerstörung der deutschen, europäischen, westlichen Kultur“ durch Masseneinwanderung in den Freitod gegangen war?

Spätestens aus dem Abschiedsbrief, den das Winter-Heft (4/2016) von Tumult, der Dresdner „Vierteljahresschrift für Konsensstörung“, veröffentlicht hat, dürfte Seibt erfahren haben, wie selbst lange unerschütterlich wirkende Naturen, kühl abstrahierende und analysierende Intellektuelle wie Sieferle, zerbrechen können unter dem Druck der von ihm bereits vor Jahrzehnten, in seinem mitunter nahezu beängstigend hellsichtigen Werk über „Die Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert“ („Epochenwechsel“, 1994), exakt prognostizierten Verwerfungen, ausgelöst von einer Politik, die den europäischen Wohlstands-Archipel der Dritten Welt zur Plünderung preisgibt.

Universalisierte Ökonomie und humanitäre Ideologie

Schon im „Epochenwechsel“ sind resignative Untertöne nicht zu überlesen. Sie speisen sich aus Ohnmachtsgefühlen des überlegenen Geistes, dem Wissen eben keine Macht gibt, um in einen als verhängnisvoll erkannten, vom „Wahn der Selbstzerstörung“ befeuerten Prozeß einzugreifen. Ähnliche Gefühle hielt der außenpolitische Kopf der Anti-Hitler-Opposition, Ulrich von Hassell, wenige Wochen vor dem 20. Juli 1944, dem letzten, verzweifelten Versuch, das Schicksal des Deutschen Reiches zu wenden, in seinem Tagebuch fest.

Zuletzt nahm Rolf Peter Sieferle, dessen Denken um die natürlichen Grenzen sozialökonomischer Ordnungen kreiste, offenbar nicht einmal solche, nur über minimale Erfolgschancen verfügenden Gegenkräfte wahr. Stattdessen mehrten sich für ihn während der vermeintlichen „Flüchtlingskrise“ die „Wahnsinnssignale“ an allen Fronten. Unsere Kultur säge an mehreren ihrer Säulen gleichzeitig. Zum Beispiel – nicht verwunderlich bei dem hohen, von Claudia Roth und Kai Diekmann (Ex-Bild) repräsentierten Studienabbrecheranteil in Politik und Medien – durch die aufgrund der „Immigration von Minderbegabten“ noch forcierten „Infantilisierung des Bildungssystems“: „Sie läßt nicht nur Millionen von Analphabeten in ihre Länder einreisen, sondern sie sorgt zugleich dafür, daß ihre Einwohner selbst, jedenfalls die Jugendlichen, zu Analphabeten werden.“ Was sich hier vollziehe, sei wie eine Epidemie. „Ich spüre dahinter ein solches Momentum, daß ich es für fast ausgeschlossen halte, daß dieser Prozeß aufgehalten oder gar umgekehrt werden kann. Man muß ihm einfach nur gelassen in die Augen blicken und wissen, wann es an der Zeit ist, die Bühne zu verlassen.“

In einem auf den Abschiedsbrief folgenden Text „Vom gesinnungsethischen Rausch in den Untergang“ rätselt Sieferle über die Motive der Verantwortlichen für den Menschenimport. Die seien ihm nicht völlig klar. „Die Vermutungen reichen von schlichten Irrtümern, gesinnungsethisch-ideologischen Aufladungen bis hin zu einer geheimen Agenda der Zerstörung der ethnisch-kulturellen Identität in den Wohlstandszonen mit der Hoffnung, dadurch eine technokratische Zentralisierung erleichtern zu können.“ 

Im „Epochenwechsel“ hingegen sah der fraglos in einer Liga mit Max Weber und Otto Hintze, mit Thomas Nipperdey und Ernst Nolte spielende, die Weltgeschichte von der Steinzeit bis zur Energiewende souverän überschauende Universalhistoriker schon einmal deutlich klarer, welche Allianz die rechts- und sozialstaatlich verfaßten Nationen Europas ins Chaos treibt: der globalisierte Raubtierkapitalismus der angelsächsischen Plutokratie, also die reale ökonomische Macht, und die in der transatlantischen Zivilisation nach 1945 expandierte, inzwischen hegemoniale ideologische Macht des ethischen Universalismus. 

Universalisierte Ökonomie und universal-humanitäre Ideologie, Sein und Bewußtsein, passen, wie der Marx-Exe-get Sieferle konstatiert, zueinander wie Topf und Deckel. Störpotential ist von der europäischen Linken nicht mehr zu befürchten, seitdem sie Marx endgültig zugunsten von Foucault verabschiedet und sich dem systemkonformen Kult um die mit möglichst vielen Fremden aufzustockenden „Minderheiten“ hingegeben hat. Die Reihen sind fest geschlossen: Wallstreet-Investoren Arm in Arm mit der „Refugees welcome“-Lobby. Vereint im Menschenbild des Egalitarismus, des „Menschismus“ (Peter Kuntze, JF 38/15), der Menschen nur noch als Arbeitskräfte, Konsumenten, Waren kennt, Atome unter Atomen. Die von Friedrich Nietzsche 1887 vorausgesehene „unvermeidliche Wirtschafts-Gesamtverwaltung der Erde“ hat konsequent mit dem „Maximum in der Ausbeutung des Menschen“ auch zur „Wert-Verringerung des Typus Mensch“ geführt. 

Für das von der ökonomischen Logik diktierte Bewußtsein sind nationale Kulturen Hindernisse im Freihandelsstrom von Geld, Informationen, Arbeitskräften, Dienstleistungen. Die Funktionseliten zwischen New York und Berlin, so Sieferle, hätten daher keine Vorstellung mehr vom welthistorisch singulären, fragilen Wert einer nationalen Kultur. Sie scheinen auch nicht mehr zu wissen, daß ökonomische Effizienz an spezifisch kulturelles Kapital, an autonome Individualität, Rationalität, Freiheit, Recht, Arbeitsethos, Intelligenz und Organisationstalent der in ethnisch relativ homogenen, demokratischen Nationalstaaten vereinten europäischen Völker gebunden ist. 

Obwohl ihnen doch zu denken geben sollte, daß, ausgenommen einige asiatische Gesellschaften, die in von konfuzianischer Leistungsethik geformten Hochkulturen wurzeln, die Imitation des westlichen Industriesystems in außereuropäischen Kulturen „bislang bemerkenswert erfolglos geblieben ist“. Eben weil Menschen nicht beliebig austauschbar sind. Die in Jahrhunderten entstandenen, eigentümlich kulturellen, mentalen und letztlich ethnischen Komponenten politisch-ökonomischer „Erfolgsmodelle“ bleiben daher Unikate.

Merkel als eine der großen Katastrophengestalten

Die in den 1960ern anhebende westeuropäische Einwanderungspolitik, jetzt beschleunigt durch die demographische Dynamik Afrikas und Vorderasiens, werde das Wohlstandsgefälle zwischen Nord und Süd folglich nicht aufheben. Die Bereitschaft des „Menschismus“, so läßt sich Sieferles Argumentation mit Peter Scholl-Latour zuspitzen, halb Kalkutta aufzunehmen, werde nicht Kalkutta retten, sondern Europa in Kalkutta verwandeln. 

Der Schrittmacherin dieser das politische System nicht allein Deutschlands ruinierenden, die ethnische Zusammensetzung des deutschen Volkes irreversibel verändernden Politik will der Historiker Sieferle daher einen privilegierten Platz in den Geschichtsbüchern anweisen: Angela Merkel werde vermutlich als „eine der großen Katastrophengestalten in die deutsche Geschichte eingehen“. Tatsächlich dürfte sie erst als zweite Bewohnerin in dieses Pantheon der Unheilsfiguren einziehen.