© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Nur einem Phantom nachgejagt
Aus der Frühzeit der „Org Gehlen“ und des BND: Das Feindbild „Rote Kapelle“ nach 1945
Jürgen W. Schmidt

Gerhard Sälter ist Mitglied der „Unabhängigen Historikerkommission“ zur Erforschung der Geschichte des Bundesnachrichtendienstes (BND). Nachdem allen Kommissionsmitgliedern freier Aktenzugang und keinerlei Zensurmaßnahmen zugesichert worden waren, erscheinen jetzt nach jahrelanger Forschungstätigkeit erste wissenschaftliche Studien zur Geschichte des BND. 

Sälter wurde beim Aktenstudium auf eine riesige Fehlspekulation der „Org Gehlen“ aufmerksam, welche sich im späteren BND fortpflanzte. Man glaubte nämlich hartnäckig daran, daß die als „Rote Kapelle“ bekannt gewordene sowjetische Spionageorganisation nach 1945 munter fortleben würde. Wie wir heute wissen, subsumierte man in Gestapo und „Abwehr“ unter dem Begriff „Rote Kapelle“ verschiedenste sowjetische Spionageorganisationen, die in Westeuropa, der Schweiz und in Deutschland während des Zweiten Weltkriegs Spionage trieben. 

Diese Spionageorganisationen gehörten unterschiedlichen sowjetischen Geheimdiensten wie dem militärischen Geheimdienst GRU oder der Auslandsabteilung des NKWD an und arbeiteten eigentlich strikt getrennt voneinander. Nur aufgrund von Verbindungsschwierigkeiten wurde 1941 ein Mitarbeiter des militärischen Nachrichtendienstes in Belgien beauftragt, die NKWD-gesteuerte Schulze-Boysen-Harnack-Gruppe in Berlin anzulaufen, was letztlich zum Aufrollen der Berliner und später auch der Spionagegruppen in Frankreich, Belgien und der Schweiz führte. 

Weil diese Spionagegruppen über Funker („Pianisten“) mit Moskau verkehrten, lief diese Spionageabwehroperation im Dritten Reich unter dem Oberbegriff „Rote Kapelle“. Die spätestens 1942/43 zerschlagenen sowjetischen Spionagegruppen gehörten allerdings nie zu einem ganz Europa umfassenden, einheitlich gelenkten Spionagemonster namens „Rote Kapelle“ und folglich konnte dieses nicht nach 1945 seine Auferstehung feiern, dabei den ganzen freiheitlichen Westen inklusive der jungen Bundesrepublik und der USA bedrohend. 

Aber gerade an die Bedrohung durch eine wiederauferstandene „Rote Kapelle“ glaubte man in der Organisation Gehlen felsenfest, und deshalb widmete auch der spätere Bundesnachrichtendienst der Jagd nach jenem Phantom viel Zeit und Mittel. Man nahm an, eine der Zentralen jenes Spionageorgans in der Notenbankverwaltung der DDR verorten zu können, nur weil mit Greta Kuckhoff eine Altkommunistin und Überlebende der „Roten Kapelle“ an der Spitze jener Einrichtung stand. 

Namhafte Persönlichkeiten wie die Schriftsteller Günther Weisenborn und Theodor Plievier, der Politologe Klaus Mehnert, die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann und sogar die Schauspielerin Marika Rökk verdächtigte man, irgendwie in die Aktivitäten der frisch aufblühenden „Roten Kapelle“ verstrickt zu sein. Dazu kamen aus Sicht von Geheimdienstchef Reinhard Gehlen handfeste machtpolitische Gesichtspunkte, die ihn das gegen die „Rote Kapelle“ gerichtete Spionageabwehrprojekt „Fadenkreuz“ mit äußerster Konsequenz betreiben ließen. 

Viele „Spezialisten“ aus der NS-Zeit wurden konsultiert

Ursprünglich hatte Gehlen nicht nur Chef des Auslandsnachrichtendienstes der jungen Bundesrepublik werden wollen, sondern zugleich auch Chef des Inlandsnachrichtendienstes, also des später separat vom BND geschaffenen Verfassungsschutzes. Folglich erhielt die Generalvertretung Karlsruhe der „Org Gehlen“ vorrangig Spionageabwehraufgaben zur Bearbeitung, wobei wie nicht ungewöhnlich Spionageabwehr und Nachrichtendienst, weil die Spuren meistens in die Sowjetische Besatzungszone führten, fließend ineinander übergingen. 

Ohne jedwede Rücksichten auf politische oder kriminelle Belastung wurden von Gehlen zur Jagd auf die „Rote Kapelle“ ehemalige SD- und Gestapo-Männer, frühere geheime Feldpolizisten und Funkabwehrspezialisten eingestellt, weil diese ja aus praktischer Erfahrung das Personal und die Handschrift der „Roten Kapelle“ am besten kannten. 

Selbst Männer, die nachgewiesenermaßen Blut an den Händen hatten, wie der einstige Luftwaffenrichter Manfred Roeder, waren hier als Stichwortgeber und Sachkenner beim BND sehr gefragt, wenngleich man Roeder nicht in den BND einstellte, sondern nur sein Insiderwissen über die „Rote Kapelle“ abschöpfte. Reinhard Gehlen und seine Spionenjäger bekamen erst um 1957 mit, daß man im Fall der „Roten Kapelle“ einem Phantom nachjagte. Die sowjetischen und auch die DDR-Geheimdienste hatten indessen die Zeit gut genutzt, um ihrerseits Spionagegruppen im Westen zu installieren, welche mit der einstigen „Roten Kapelle“ rein gar nichts, weder beim Personal noch bei den Methoden, gemeinsam hatten.

Gerhard Sälter: Phantome des Kalten Krieges. Die Organisation Gehlen und die Wiederbelebung des Gestapo-Feindbildes „Rote Kapelle“. Verlag Ch. Links, Berlin 2016, gebunden, 555 Seiten, Abbildungen, 50 Euro