© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 05/17 / 27. Januar 2017

Der Flaneur
Wenn der Esel nicht will
Bernd Rademacher

Wenn man sich hier auskennt, ist der Waldweg eine praktische Abkürzung, denn in der Mitte führt ein hölzerner Steg über den Bach, den man sonst bis zur nächsten Brücke umrunden müßte. Der Pfad wird gerne von Spaziergängern, Geländeradfahrern und Hundebesitzern benutzt.

In einiger Entfernung kommt eine Gestalt auf mich zu. Es scheint eine Person mit Hund zu sein. Aber der Hund ist überproportional groß und hat viel zu große Stehohren. Was ist das?

In grob geschätzt 50 Metern Entfernung kann ich die Person als Frau identifizieren, aber was hat die für ein seltsames Tier dabei? Riesen-Wolfshund? Pony? Ich traue meinen Augen kaum – es ist ein Esel! Auf ihrer Seite des Steges treffen wir aufeinander. Sie führt den Esel Gassi wie einen Hund.

Ich habe einen Hund, damit wenigstens einer in der Familie einfach macht, was ich sage.

Ich spreche sie interessiert an und merke gleich, ich bin weder der erste noch der einzige, der neugierig reagiert. Aber sie beantwortet meine Fragen geduldig: Ja, der Esel müsse täglich zum Spaziergang ausgeführt werden. Ja, Esel seien wirklich so störrisch, wie man erzählt. Nein, Esel sollen nicht auf der Pferdewiese stehen, sondern bevorzugen asphaltierten Untergrund, weil sie aus steinigen Regionen stammen. Aha, interessant.

Sie hat sich den Esel nicht zugelegt, sondern geerbt. Esel werden locker 50 Jahre alt. Es handelt sich übrigens um eine Eselin, und die Unterbrechung des Ausfluges scheint ihr zu mißfallen, denn sie ruckt ungeduldig am Strick. Und dann streikt sie: Sie will nicht über die Holzbrücke. In dem Fall hilft nichts, erklärt die Halterin; wenn der Esel nicht will, will er nicht. Da wirkt kein Überreden, kein Schimpfen, kein Zerren, kein Leckerchen.

So ein Haustier wäre das Letzte, was ich bräuchte! Ich habe einen Hund, damit wenigstens einer in der Familie einfach macht, was ich sage.