© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Eine weltoffene Nation steht unter Schock
Kanada: Nach dem Blutbad in einer Moschee in Quebec sucht das Land Antworten / Mutmaßlicher Täter unbeschriebenes Blatt
Marc Zoellner

Ein „einsamer Wolf“ sei es gewesen: Soviel stand zu Beginn der Woche für die kanadischen Ermittler fest. Alexandre Bissonette, so der Name des Verhafteten, soll vergangenen Sonntag zur Abendgebetszeit vermummt und mit einem Sturmgewehr bewaffnet eine Moschee in Quebec, der Hauptstadt der gleichnamigen frankokanadischen Provinz, gestürmt und sechs der anwesenden Betenden ermordet haben. Ein zweiter Verdächtiger, ein aus Marokko stammender Student, sei hingegen wieder auf freiem Fuß, teilten die Behörden am Montag mit. Nach ihm sei lediglich als flüchtiger Zeuge gefahndet worden.

Eine ganze Nation steht unter Schock. Und ihre Bürger fragen sich: Wie konnte ein solches Blutbad geschehen – gerade im Herzen der liberalen, weltoffenen kanadischen Zivilgesellschaft? „Es war der Angriff eines Kanadiers auf unschuldige Kanadier“, mahnte Kanadas Premierminister Justin Trudeau. „Terrorismus ist blinde Gewalt, die weder zwischen eurem Glauben noch eurer Staatsangehörigkeit unterscheidet.“ Gleichzeitig kündigte Trudeau an, die Regierung werde „mit aller Härte“ gegen den „verabscheuungswürdigen Terrorakt“ vorgehen. „Wir stehen zu euch“, vergewisserte Trudeau die rund eine Million Angehörige zählende muslimische Gemeinde Kanadas. „Sechsunddreißig Millionen Herzen brechen gerade mit den eurigen.“

Die Frage, was Bissonette trieb, um sechs unschuldige Moscheebesucher umzubringen, war damit jedoch noch immer nicht beantwortet. Zwar verwiesen linke Quebecer Aktivisten in den sozialen Netzwerken recht schnell darauf, der 27 Jahre junge Politikwissenschaftsstudent sei „bekannt gewesen für seine identitären Ansichten, seine Ausrichtung pro Le Pen und seinen Antifeminismus“. Doch eine militante Haltung oder gar eine Affinität zur Gewalt wollten Freunde und Bekannte dem als „außenseiterischen Streber“ Bespöttelten nicht nachsagen. „Er war ein eifriger Leser, der viel über die Geschichte, über aktuelle Themen und über die Politik wußte“, beschreibt ein ehemaliger Klassenkamerad den Attentäter. 

Unauffällig waren auch Bissonettes Hobbys: Von World of Warcraft bis Rammstein, von Richard Dawkins bis Mr. Bean reichten die Interessen des noch in der Tatnacht von der Polizei Gestellten. Politisch engagiert sei Bissonette nicht gewesen. 

Um so unverständlicher, was ihn dazu brachte, scheinbar wahllos in eine Menge von gut vierzig Betenden zu schießen; sechs  Menschen, die sich zum Gottesdienst versammelt hatten, zu töten. Darunter einen beliebten Universitätsprofessor, einen Fleischer aus der Nachbarschaft, einen Apotheker und einen Buchhalter. In Kanada mit seinem restriktiven Waffengesetz ist man hausgemachten Terrorismus dieser Größenordnung nicht gewohnt.