© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Onlinehändler gehen offline
E-Commerce: Noch rollt der virtuelle Rubel, doch der Internethandel ist längst an seine Grenzen gestoßen / Kunden wollen mehr als nur kaufen
Marc Zoellner

Einen besseren Standort hätte sich Snapchat kaum auswählen können: Inmitten des Zentrums der Halbinsel Manhattan, wo die Fifth Avenue die südöstlichste Ecke des Central Parks begrenzt, hatten die Gründer des Online-Kurzvideoportals beschlossen, sich mit ihrer ersten eigenen Geschäftsfiliale niederzulassen. 

Dort prägen brisant hohe Mietpreise den Immobilienmarkt, elegante Straßenkreuzer, welche die Schluchten zwischen den gigantischen Wolkenkratzern durchqueren, ein dichter, zur Rush Hour hupender und lärmender Moloch an Autos, an Zulieferern und Yellow Cabs, den für New York typischen gelben Taxis – und natürlich die schiere Menge an Menschen, die das neue Hauptgebäude des kaum fünf Jahre alten Start-ups tagtäglich auf ihrem Weg zur Arbeit und zurück passieren müssen. 

Allein 26 Millionen Bürger und Touristen, berechneten die Vermieter des Quartiers, frequentierten im vergangenen Jahr die nächst erreichbaren U-Bahn-Haltestellen; und viereinhalb Millionen Kunden shoppten 2016 im vis-à-vis zur Snapchat-Filiale gelegenen gläsernen Kubus des Computerunternehmens Apple.

Deutsche Onlinehändler ohne Chance

Snapchat war gekommen, um zu bleiben – nämlich offline. „Dies ist die Zukunft“, verkündete ein Snapchat-Sprecher zur Eröffnung der Filiale, „ob ihr sie nun mögt oder auch nicht.“ Denn entgegen der Erwartung dient das im November von den blutjungen Internetvisionären Evan Spiegel und Bobby Murphy eröffnete Ladengeschäft keineswegs der Repräsentation ihrer Social-Media-Plattform. Es gibt nur ein einziges Produkt zu erwerben: Eine Brille mit Kamerafunktion, mit einem Aufnahmespeicher für gerade einmal zehn Sekunden – längere Filme können auf Snapchat nicht hochgeladen werden – und das für exakt 129 US-Dollar das Stück. 

Das Besondere: Diese Brille gibt es nur in ebenjenem Laden sowie einem einzigen Automaten zu kaufen, der beständig seinen Sitz quer durch die Staaten wechselt. Und trotzdem – oder gerade deswegen – standen bereits weit vor der eigentlichen Eröffnung Kunden und Gimmickfans Schlange, um eine der trendigen Snap Spectacles zu erwerben.

Von Snapchats Brillenladen in New York bis hin zu Amazons eigener Buchhandlung in Seattle: Immer öfter setzen die marktbeherrschenden Onlinehändler der Vereinigten Staaten auf traditionelle Geschäftsräume außerhalb des Internets. Sie sind Vorreiter einer Umwälzung, welche in den USA längst Realität geworden ist und mittlerweile auch von deutschen Marktforschern angemahnt wird: Denn zwar vermag der virtuelle Rubel noch einige Jahre weiter eifrig zu rollen. Doch der Handel im Internet stößt längst an die Grenzen seines Wachstums.

„Wir sind der Überzeugung, daß der anhaltende Boom des E-Commerce in den nächsten zehn Jahren stagnieren wird und die großen digitalen Marktplätze gesättigt sein werden“, warnte zuletzt Gerald Lembke vom Bundesverband Medien und Marketing zum Jahreswechsel. Zwar sehen die allgemeinen Prognosen für Betreiber von Onlinegeschäften noch recht günstig aus. Doch immer wieder müssen Wachstum und Gewinne nach unten korrigiert und neueren Modellen angepaßt werden. 

So veröffentlichte das Kölner Institut für Handelsforschung (IFH) ab 2014 vier verschiedene Szenarien zu Umsatzvolumen und Onlineanteilen der digitalisierten Einzelhändler am deutschen Gesamtmarkt. Sein Befund: Selbst unter günstigsten Prognosen gelänge es letzteren bis 2020 lediglich, ein Segment von 22 Prozent des Marktes zu besetzen. Im ungünstigsten Fall stagnierten sie schon Ende dieses Jahrzehnts bei kaum zehn Prozent. Im Jahre 2012, zum Vergleich, hielt der Onlinehandel einen deutschlandweiten Marktanteil von gut sieben Prozent.

Bestätigt werden die IFH-Prognosen unter anderem von Untersuchungen des Handelsverbands Deutschland (HDE): Der digitale Einzelhandel, berichtete die in Berlin ansässige Arbeitgeber-Interessenvertretung im Dezember, verzeichnete noch im vergangenen Jahrzehnt alljährliche Wachstumsraten im zweistelligen Bereich – und 2012 gar einen Spitzenwert von gut 19 Prozent an Umsatzzunahme. Doch die im gleichen Jahr Einzug haltende Rezession – das deutsche Bruttoinlandsprodukt stieg 2011 um 3 Prozent, 2012 nur um 0,7 Prozent – versetzte auch dem Einzelhandelsverkauf über das Internet einen abrupten Dämpfer. Einstellige Umsatzsteigerungen von lediglich sieben Prozent bestimmten die Wirtschaftsstatistiken; und selbst für 2016 wird vom HDE für Deutschland lediglich ein Volumenwachstum von circa elf Prozent vorhergesagt. 

Das sind immerhin noch satte 44 Milliarden Euro Gesamtumsatz. Doch selbst die pessimistischsten Erwartungen des IFH – ein bundesweiter Onlineumsatz von 51,8 Milliarden Euro für 2020 – werden durch die anhaltende Flaute am digitalen Markt noch untererfüllt. Im europäischen oder gar weltweiten Vergleich kann Deutschland damit nicht konkurrieren: Denn allein in Großbritannien betrug der Onlineumsatz für 2015 umgerechnet gute 62 Milliarden; weltweit sogar anderthalb Billion Euro.

Daß dem stationären und speziell deminnerstädtischen Einzelhandel nach all den Jahren des intensiven Drucks von Seiten der Onlinemärktler noch einmal eine Atempause vergönnt sein wird – mit dieser Entwicklung hatten gerade in Deutschland die wenigsten Wirtschaftsforscher gerechnet. Ganz im Gegenteil prognostizierte das IFH noch in den vergangenen Jahren, die Verlagerung der allgemeinen Einkaufstätigkeiten in den virtuellen Raum würde in Deutschland, abhängig vom jeweiligen Szenario, bundesweit zwischen 24.000 und 58.000 Geschäfte und Läden zum Schließen zwingen. Bei 410.000 Betriebsstätten, die das Land derzeit noch zählt, wäre dementsprechend jeder siebte Geschäftsraum vom Konkurs betroffen gewesen.

Das Forschungsinstitut warnt seit Jahren, daß der Konkurrenzdruck aus dem Internet zu einer Mammutaufgabe für die Inhaber stationärer Läden wächst. „Der Handel muß sich neu definieren“, gab dessen Kölner Geschäftsführer Boris Hedde bereits im April 2014 zu bedenken. Er sei jetzt gefragt, „tragfähige Konzepte zu entwickeln und die Weichen für die Zukunft zu stellen“.

Zweieinhalb Jahre später, just zum Ende des ertragreichen Weihnachtsgeschäfts, erneuert der HDE diese Mahnung – und gibt gleichsam hinreichend Anleitung, wie sich regional aufgestellte Läden und Geschäfte, auch im Verbund, auf dem sich wandelnden Markt weiterhin behaupten können.

„Der Handel, stationär wie online, bekommt eine neue Aufgabe: Er wird zum Erlebnis-Lieferanten“, erklärt Lembke zur Veröffentlichung der jüngsten Studie des IFH mit dem treffenden Titel „Vitale Innenstädte“. Stationärer Handel müsse „künftig in Erlebnis pro Quadratmeter denken – und nicht mehr in Umsatz pro Quadratmeter. [...] Mit zunehmender Ortsgröße sinkt die Bedeutung für die tägliche Versorgung auf zehn Prozent – Freizeitgestaltung und Stadtbummel dagegen treten als Besuchsmotiv in den Vordergrund.“

Kunden wollen mit Produkten interagieren

Der sogenannte analoge Handel, konzeptuell jenem digitalen, also dem Einkauf über Internetplattformen entgegengesetzt, geriet in der Vergangenheit gleich durch eine Fülle fehlender Eigenschaften in akute Bedrängnis, so Lembke und sein Team. Online zu shoppen brachte Vorteile, welche die Kunden deutlich zu spüren vermochten: aktuelle, stets zur Hand befindliche Preisvergleiche; überhaupt niedrigere Preise durch geringere Nebenkosten der Händler im Internet. Die Bequemlichkeit, nicht zur Ware hin zu müssen, sondern die Ware frei Haus geliefert zu bekommen. 

Die Effizienz im Einkaufsverhalten, das angenehme Zeitmanagement, der stete Überblick über Produkte, Neuerungen und ihre Kundenbewertungen auf unterschiedlichsten Portalen: Stationäre Geschäfte könnten all diese Boni nicht bieten – zumindest nicht im Alleingang und erst recht nicht strikt analog. Doch was Kunden in den Läden ihrer Stadt sonst noch suchten, ließen deren Inhaber noch immer außer acht. „Gut ein Drittel der Käufer kommt wegen des Erlebnis-charakters, des Ambientes und einer attraktiven Gestaltung im stationären Handel – wird dabei aber enttäuscht“, appellieren die Macher der Innenstadt-Studie in ihrem Fazit. Dem Gros der Betreiber mangele es an Innovation, aber auch an fachgerechter Kenntnis des Einsatzes neuer Medien zum Zweck der Verkaufsförderung.

„Wem es gelingt, die virtuelle und reale Welt effektiv zu verzahnen, der wird sich in der veränderten Medienwelt durchsetzen können“, erklärt Christian von den Brincken, Managing Director der Außenwerbefirma Ströer Media SE, in der Welt. Weitreichende Betätigungsfelder bietet Händlern wie Klienten dabei das Internet der Dinge – die Interaktion des Kunden mit dem Produkt selbst; beispielsweise im gegenseitigen Datenaustausch über aktivierte Smartphone-Apps oder auch den Scan spezieller QR-Codes auf der jeweiligen Verpackung. Wie alltagstauglich das Internet der Dinge mittlerweile ist, beweisen unter anderem die Hybris Labs des deutschen Softwareriesen SAP anhand ihres schlicht „wine shelf“ getauften smarten Weinregals. 

Potentielle Kunden, welche dieses Möbelstück passieren, werden durch sanft aufglimmende Lichter auf mögliche neue Weine in ihrer Geschmacksrichtung aufmerksam gemacht. Was einzig dazu nötig ist, ist ein Smartphone sowie die Datenbankeinträge des Kunden in eine App bezüglich seiner geschmacklichen Präferenzen. 

Digitale Anprobe von Kleidungsstücken, die digitale Erkundung neuer Küchen und Bäder, die Ermittlung von Herkunft, Qualität, Kostenschlüssel und Inhaltsstoffen durch Scans von Digitalcodes – die Möglichkeiten deutscher Handelstreibender, sich im Wettbewerb aufzurüsten, um gegen die teilweisen Dumpingpreise der konkurrierenden Onlinehändler bestehen zu können, sind mit Beispielen wie obigen einleuchtend erklärt, aber längst noch nicht ausgeschöpft.

Den Einkauf in ihren Läden zur innovativen, Freizeitgestaltung mit Erlebnischarakter zu gestalten, wird in den kommenden Jahren, so sind sich die Marktforscher einig, zur tragenden Herausforderung der stationären, insbesondere aber der innerstädtischen Händler werden. Aber auch der Onlinehandel ist gefragt, sich innovativ im analogen Feld zu betätigen – und bestenfalls mit den traditionellen Einzelhändlern zu vernetzen, von deren Erfahrungen zu lernen, Wissen und Expertise gewinnbringend auszutauschen. Denn immerhin nutzen mittlerweile auch rund 20 Prozent der Einzelhändler Deutschlands das Internet als zweites Vertriebsstandbein und schaffen somit bundesweit Arbeitsplätze im sechsstelligen Bereich.