© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 06/17 / 03. Februar 2017

Gutdenk und Neusprech
Ein Klassiker wird erneut zum Bestseller: Zur Popularität von George Orwells Dystopie „1984“
Thorsten Hinz

George Orwells Klassiker „1984“ schießt auf den Amazon-Verkaufslisten nach oben, im englischen Original wie in der deutschen Übersetzung. Seit fast 70 Jahren ist der Buchtitel die Metapher für den Überwachungs- und Polizeistaat und der Satz „Big brother is watching you“ („Der große Bruder beobachtet dich“) die übliche Floskel, mit der Kritiker auf Gesetzesvorhaben zur Videoüberwachung oder Datenspeicherung reagieren. Doch der Sinngehalt des erstmals 1949 erschienenen Romans ist viel umfassender.

Seine Hauptfigur Winston Smith, die gegen Unterdrückung aufbegehrt und durch Folter und Gehirnwäsche zu einem folgsamen Zombie geformt wird, ist 39 Jahre alt. Er wurde 1945 geboren, just als Hitler, die Inkarnation des Bösen, besiegt wurde. Das Buch spielt in Großbritannien, das zu Ozeanien, einem transatlantischen Großreich, gehört. Der Roman läßt sich also nicht auf eine Parabel über den Stalinismus oder den Nationalsozialismus reduzieren. 

Er beschreibt eine totalitäre Gesellschaft, die auf der Verbindung von kommunikativer mit administrativer Macht gründet. Die Sprache, der Diskurs und schließlich das Denken sind auf ein primitives „Gutdenk“ reduziert, das seinen Ausdruck im „Neusprech“ findet. Verantwortlich dafür ist das „Wahrheitsministerium“ (Neusprech: Miniwahr). Damit ist es unmöglich, eine Alternative zur vorgefundenen Realität zu formulieren. Wer dennoch gegen die Sprachmauer anrennt, wird dem Terror unterworfen, für den das „Ministerium für Liebe“ (Minilieb) zuständig ist, das ein umfassendes Bespitzelungs- und Denunziationssystem unterhält.

Die „Wahrheit“ ist keine stringente Ideologie mehr wie die Lehren vom Klassen- und Rassenkampf, sondern verändert sich ständig nach machttaktischen Erfordernissen. Die sinnstiftende Konstante bildet ein imaginierter innerer Feind, der angeblich aus dem Untergrund das Glück und den Wohlstand des Landes bedroht. Gegen ihn werden die Massen permanent mobilisiert und so der herrschenden Nomenklatura gefügig gemacht. Die Kombination von Sprachmacht und Gewalt erschafft eine virtuelle Realität, in der sich die Menschen mangels Alternativen eingerichtet haben.

Annäherungen an Orwells Dystopie in der Gegenwart sind unübersehbar. Der „Kampf gegen Rechts“ mobilisiert und stiftet Sinn, wie lächerlich auch immer, die politische Korrektheit bildet die Entsprechung zum „Gutdenk“ und „Neusprech“, und mit dem Entschluß der Regierung, ein sogenanntes Recherchezentrum mit der Überwachung und Bewertung sozialer Netzwerke zu betrauen, wird eine Vorform des Wahrheitsministeriums etabliert.

Das geschieht in einer Zeit, in der die politischen und gesellschaftlichen Konflikte eskalieren. Unter anderem im Zuge der Asylkrise, die tief in das Lebensumfeld und den Alltag derer, „die schon länger hier leben“ (Angela Merkel) eingreift. In ihrer politisch-korrekten Kommunikation werden orwellsche Mechanismen sichtbar. Der Ausgangspunkt der offiziellen und semistaatlichen Argumentation ist vorpolitisch, nämlich moralisch.

So wurden die Hunderttausende Migranten pauschal als „Flüchtlinge“ oder „Schutzsuchende“ apostrophiert. Wer gegen die Grenzöffnung war, sollte sich moralisch minderwertig und schuldig fühlen. Die Ereignisse in Köln, wo ein polizeiliches Großaufgebot die Frauen vor den „Schutzsuchenden“ schützen mußte, riefen aushilfsweise den Feminismusdiskurs auf den Plan, der selber eine treibende Kraft der politischen Korrektheit ist. Nur kann eine allgemeine Männergewalt gegen Frauen nicht erklären, daß auch junge Männer zu Opfern rudelartig auftretender Gewalttäter werden.

Wer daraus aber den logischen Schluß zieht, daß die deutsche als eine Beute-gesellschaft angesehen wird und die Inbesitznahme der Frauen den Herrschaftsanspruch einer konkurrierenden Gruppe ausdrückt, ist im Verständnis der Political Correctness dem orwellschen „Un-“ beziehungsweise „Verbrecherdenk“ verfallen. Er hängt einem „völkischen“ Denken an und stellt Angehörige anderer Völker und Religionen unter „Generalverdacht“. Damit gerät er in die Nähe der „Volksverhetzung“ und in den Fokus der staatlichen Organe.

Die sozialen Medien bieten ein Ventil für den Gefühlsstau, der aus den Sprechverboten folgt, aber auch neue Möglichkeiten der Artikulation und Organisation. Diese Möglichkeit soll blockiert, das „Gutdenk“ vor „Haßsprache“ und „Fake News“ geschützt werden. 

Der Wissenschaftsjournalist und Fernsehmoderator Ranga Yogeshwar verweist auf das wegen seiner Unterdrückungspraxis oft gescholtene China als Vorbild. „China behält eine gewisse Kontrolle darüber, welche Nachrichten ihr Land penetrieren. Das brauchen auch wir, um sicherzustellen, daß nicht das Betriebssystem unseres Landes gestört wird“, sagte er der Welt. Damit dürfte er die orwelleske Haltung des politisch-medialen Komplexes auf den Punkt gebracht haben. Jedenfalls wurde kein Widerspruch laut. Wenn der Hegemonieverlust droht, fällt der demokratische Firnis ab und der Wille zum Machterhalt kommt unverhüllt zum Vorschein.

Die neue Popularität des Orwell-Romans wurde in Deutschland erst thematisiert, nachdem sie sich auf das Feindbild Trump beziehen ließ. Dessen Sprecherin hatte gegen die mediale Darstellung der Amtseinführung „alternative Fakten“ ins Spiel gebracht. Die Formulierung wurde umgehend skandalisiert, obwohl sie nur die Tatsache ausdrückt, daß die reale und die Medienwirklichkeit im Zeitalter der politischen Korrektheit noch weiter als sonst auseinanderklaffen. Die deutschen Medien beschränkten sich darauf, die Donald Trump feindlich gesinnte New York Times zu variieren, auch mit dem Ziel, eine Orwell-Debatte in Deutschland zu verhindern oder in harmlose Bahnen zu lenken.

Die FAZ meint: „Trumps Präsidentschaft erinnert viele an George Orwells Roman ‘1984’.“ Der Mitteldeutsche Rundfunk vermeldet: „Nun dient das Buch scheinbar als Verständnishilfe zum Agieren des neuen US-Präsidenten Donald Trump und in der Debatte um ‘alternative Fakten’.“ Die Bild-Zeitung glaubt zu wissen: „Trump beschert Orwell ein Comeback“. Spiegel Online titelt: „‘Alternative Fakten’: Orwells Klassiker ‘1984’ wird wieder Bestseller.“ Die Süddeutsche Zeitung: „Alternative Fakten: US-Bürger kaufen Orwells ‘1984’“. Die Beispiele ließen sich fortsetzen. Soviel zur Tiefenschärfe, Realitätsnähe und Vielfalt deutscher Qualitätsmedien.

Darin wird noch etwas sichtbar, das Orwell, ein undogmatischer Linker, so besorgt gemacht hatte: die Verführbarkeit der Intellektuellen und ihre Neigung zur Selbstgleichschaltung. „1984“ steht noch nicht vor der Tür, doch es ist uns näher, als viele glauben.