© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

In jeder Hinsicht am Tabellenende
Schlaglicht Somalia: Zerfallendes Staatsgebiet, machtlose Bundesregierung, kein Nationalbewußtsein / Weite Landesteile werden von Milizen terrorisiert
Mathias Wegner

Wer ein mustergültiges Beispiel für einen gescheiterten Staat sucht, wird schnell auf Somalia stoßen. Um die staatskonstituierenden Merkmale der ehemaligen britischen und italienischen Kolonie ist es schlecht bestellt. Das Staatsgebiet ist im Zerfall begriffen: im Norden strebt Somaliland nach Unabhängigkeit, Puntland und Galmudug sehen sich als autonome Gebiete im Bundesstaat. Das eigentlich ethnisch homogene Staatsvolk – die Mehrheit der Somalier gehört dem Volk der Somali an – ist nur gegenüber dem jeweils eigenen Clan loyal. Die Staatsgewalt der sich aktuell neu konstituierenden Zentralregierung endet spätestens an den Grenzen der Hauptstadt. Den Rest regieren Clanführer, die oft Kriegsheren sind und wechselnde Bündnisse mit anderen somalischen Clans und ausländischen Mächten eingehen. Dem Staat und seiner Regierung halten sie nur die Treue, solange es ihnen zum Vorteil gereicht.

Somalia rangiert in allen gängigen Indizes zu Entwicklung, Bildung, Ökonomie, Korruption, Menschenrechten und Sicherheitsrisiken jeweils am Tabellenende oder bildet gar das Schlußlicht. Hilfsorganisation betrachten Somalia als „vergessene Krise“: das Schicksal Somalias und seiner Menschen interessiert auf der internationalen Weltbühne aktuell niemanden.

Identifikation nicht mit dem Land, nur mit eigenem Clan

Die Menschen dort leben überwiegend von Subsistenzlandwirtschaft: Viehhaltung macht, unterschiedlichen Quellen zufolge, 40 bis 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes und zirka die Hälfte der kläglichen Exporte aus. Industrieproduktion existiert kaum. Somalia importiert massiv Fertigerzeugnisse des täglichen Bedarfs und Investitionsgüter, vor allem aus Dschibuti, Indien und China. Ein Bankensystem ist erst im Entstehen begriffen. Geldtransfers werden in Somalia meist traditionell über das vor allem im arabischen Raum verbreitete, informelle Hawala-System abgewickelt.

Das Land befindet sich spätestens seit dem Ende der Diktatur unter Siad Barre im Jahr 1991 in einem chronifizierten Bürgerkrieg: die UN (OCHA/ UNHCR, Stand Dezember 2016/Januar 2017) berichten von über einer Million Binnenflüchtlingen im Land. Hunderttausende von ihnen kampieren an den Stadträndern Mogadischus und sind auf die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen angewiesen. Wer, wie offiziell weitere etwa 800.000 Somalier, außer Landes flieht, endet oft im gigantischen Lager Dadaab im Nachbarland Kenia. Dieses Lager soll nun im Mai aufgelöst werden. Die Rückkehr der Somalis würde das Land am Horn von Afrika weiter destabilisieren. Die Kenianer haben für Dadaab immer einträgliche Spenden von der UN bekommen.

Seit Anfang der neunziger Jahre hat der Staat keine Regierung mehr gehabt, die landesweit anerkannt war. Die aktuelle „Bundesregierung“ in Mogadischu regiert im wesentlichen die Innenstadt und würde ohne eine massive Truppenpräsenz der UN-mandatierten Afrikanischen Union (Amisom) und ohne Unterstützung aus dem Ausland binnen Wochen ganz von der politischen Bildfläche verschwinden. Die Macht im Land ruht auf den Schultern diverser Clanführer, viele von ihnen Warlords, denen an Demokratie soviel gelegen ist wie dem Demokraten an der Einführung der Scharia. Die mehrheitlich dem sunnitischen Islam angehörigen Somali identifizieren sich zuallererst mit ihrem Sub-Clan und Clan als gemeinschaftsstiftende und gesetzgebende Entität – Somalia ist für sie kaum mehr als ein skurriles Konzept.

Die islamistische Al Shabaab, eine dem IS nahestehende Terrororganisation, kontrolliert ganze Teile des Landessüdens und hält vor allem Mogadischu in Atem. Es vergeht kein Tag, an dem in der somalischen Hauptstadt niemand Opfer eines Autobombenanschlags oder von Mörserbeschuß wird. Beim letzten großen Selbstmordattentat der „Mudshahidin-Jugend“ am 25. Januar explodierten in kurzer Folge zwei mit Sprengstoff beladene Fahrzeuge vor einem beziehungsweise in der Nähe eines international frequentierten Hotels unweit des Parlamentsgebäudes und des Präsidentensitzes. Es gab mindestens 18 Tote und Dutzende Verletzte. Bei einem Doppelanschlag gleicher Machart am 2. Januar im Nahbereich eines Amisom-Kontrollpunkts, der ebenso viele Tote und Verwundete forderte, durchschlugen Explosionssplitter das Cockpitfenster eines auf dem Flughafenvorfeld abgestellten UN-Flugzeugs. Das ist Alltag in der Hauptstadt eines Landes, in der man auf dem Marktplatz neben Gemüse für etwa 50 Dollar auch leicht Handgranaten kaufen kann.

Die Hoffnungen des Landes ruhen auf den Schultern der Kinder. Etwa die Hälfte der Kinder in Somalia muß durch Arbeit zum Familienauskommen beitragen und kann deshalb keine der spärlich gesäten Schulen besuchen. Dreißig Prozent der schulpflichtigen Kinder besuchen immerhin eine Art Grundschule. Oft jedoch werden hier nicht das Lesen und Schreiben oder Naturwissenschaften gelehrt. In vielen Madrassas, so die Bezeichnung islamischer Religionsschulen, konzentriert sich die Bildung der Kinder auf das Auswendiglernen und Rezitieren von Koranversen. 

Somalia: Verläßliche Angaben zu dem Land gibt es nicht, großenteils nur Schätzungen. Die Zahlen und Daten in diesem Artikel stammen von der UN und aus dem World Fact Book der CIA. Selbst dort sind sie oft als „Schätzungen“ ausgewiesen. Die Gründe dafür liegen in der schlechten Sicherheitslage und im Fehlen einer Statistikbehörde.

 www.cia.gov/