© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Diesen Kuß der ganzen Welt
Schillers Ode „An die Freude“: Heute ist sie eine Art Gründungsdokument der Willkommenskultur
Michael Klonovsky

Schillers Ode „An die Freude“ verdankt ihren Ruhm vor allem der Musik Ludwig van Beethovens. Dem Dichter selbst war das überschwengliche Tisch- und Trinklied ein bißchen peinlich. Ein „schlechtes Gedicht“ nannte er es in einem Brief vom 21. Oktober 1800. „Trotz seiner ungewöhnlichen Erfolgsgeschichte hat er den Text folgerichtig 1800 im ersten Band seiner gesammelten Gedichte nicht mehr neu drucken lassen“, notiert Schiller-Biograph Peter-André Alt. Erst in einer späteren Sammlung von Jugendgedichten erschien eine geringfügig veränderte Version der Ode im Druck. Heute zählt „An die Freude“, auch wenn kaum jemand mehr als die drei, vier einschlägigen Zeilen kennt, zu den bekanntesten Gedichten des Goethe-Dioskuren. 

Friedrich Schiller schrieb die Ode auf Bitten seines Freundes und Gönners Christian Gottfried Körner im Sommer 1785 für die Tafel der Dresdner Freimaurerloge „Zu den drei Schwertern“. Inwieweit sich die Geldsorgen des Poeten und die Freimaurerei des Mäzenaten im zuweilen schwülstigen Ton des Werkes zum Table-Dance fügen, stehe dahin. Im erwähnten Brief schreibt Schiller an Körner: „Deine Neigung zu diesem Gedicht mag sich auf die Epoche seiner Entstehung gründen: Aber dies gibt ihm auch den einzigen Wert, den es hat, und auch nur für uns und nicht für die Welt, noch für die Dichtkunst.“

Wie andere Freimaurerlyrik dieser Zeit beschreibt „An die Freude“ die Utopie einer Brüdergemeinde, die sich der Zwänge von Staats- und Standesschranken entledigt. Die Ode wurde in Logenkreisen rasch populär und erlebte um die fünfzig Vertonungen, eine unsterbliche durch das Chorfinale der 1824 uraufgeführten Neunten Symphonie Beethovens. 

In Verbindung mit dieser Musik entfalten Schillers Verse eine bezaubernd vernunftwidrige idealistische Kraft, und man ahnt, warum Thomas Manns „Zauberberg“-Bewohner Ludovico Settembrini postulierte, Musik sei eine „politisch verdächtige“ Kunst. Zusammen mit Beethovens saturnalischen Klängen verkörpern Schillers hochherzige Verse wie kein zweites Kunstwerk den deutschen Marsch ins Ideal. Schillers Hymnus ist ja sehr edel und mitreißend, bis ins Hysterische ambitioniert, aber eben auch ohne jedes Maß, vollkommen weltfremd, was auch die Hochsprache nicht kaschieren kann, mit einem Wort: sehr deutsch. „Daß alle Menschen Brüder werden sollen“, spottete dagegen der weltgewandte Johannes Gross, „ist ein Traum von Einzelkindern.“ 

Fünf Jahre nach Niederschrift der Ode begannen die Jakobiner, den Satz politisch durchzubuchstabieren. Das Großmassaker der Brüderlichkeit, das die Demokratien des Westens bizarrerweise heute als ihren Gründungsmythos betrachten, hat Monsieur Schiller, den Ehrenbürger des revolutionären Frankreichs, angeekelt. Mit hoher Wahrscheinlichkeit hätte er „An die Freude“ fünf Jahre später schon nicht mehr gedichtet.

Etwas anders sah Beethoven wohl die Dinge. Bereits im Chorfinale seiner einzigen Oper „Fidelio“ (1805 uraufgeführt) zitierte er aus Schillers Gedicht; man muß allerdings wissen, daß die reale Leonore, die ihren Mann aus dem Gefängnis befreite, das Vorbild der Hauptfigur der „Befreiungsoper“, eine Madame de Tourraine war, eine Royalistin, und ihr Mann ein Aristokrat. Nur der Kerker gehörte der Revolution. Als Beethoven die „Neunte“ komponierte, war die revolutionäre Erregung indes abgeklungen, und die Reaktion hatte fürs erste gesiegt. Die Ode war wieder rein utopisch geworden.

Heute wird das Opus der beiden Deutschen bekanntlich als Europahymne verwendet. Der Politiker Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi, Freimaurer und Gründer der „Paneu-ropa-Union“, schlug es erstmals 1955 dafür vor. 1972 nahm der Europarat den Vorschlag an, allerdings als Instrumentalversion – angeblich um keine europäische Sprache zu bevorzugen. 1985 wurde das Stück zur Hymne der Europäischen Union erklärt. Es ist von neuem politisiert – sprich: mit neuen politischen Emotionen aufgeladen – worden.

Wie diese Politisierung ausschaut, demonstrierten beispielsweise im November 2015 Mitglieder des Mainzer Staatstheaters. Sie sangen die Ode vom Balkon des Theaters, um einer auf dem Vorplatz stattfindenden AfD-Kundgebung ihre „Weltoffenheit“ entgegenzusetzen. Derselbe Vorgang wiederholte sich mit anderem Personal vor kurzem in Koblenz. Da sie eine genehmigte Versammlung störten, erhielten die Mainzer Chormitglieder eine Strafanzeige des städtischen Polizeipräsidiums. Das Recht stellte sich über das Ideal – in Zeiten, wo das Ideal nach dem Willen der Machthaber und intellektuellen Wortführer den Rechtsbruch legitimieren soll, ein bemerkenswerter Vorgang.

Was das mit Schiller und Beethoven zu tun hat? Nun, ihr gemeinsames Werk kann, ohne ihm mehr Gewalt anzutun als die Kanzlerin der deutschen Sprache, als eine Art Gründungsdokument der „Willkommenskultur“ („Seid umschlungen Millionen/ Diesen Kuß der ganzen Welt!“). Der typisch deutsche Mangel an Maß und Mitte, verbunden mit einem noblen unpolitischen Idealismus, findet in der Ode einen vollendeten und vor allem überwältigenden Ausdruck. So wie diese fundamentalistische kosmopolitische Ode nur in Deutschland gedichtet und in strahlendes D-Dur gesetzt werden konnte, konnte auch die fundamentalistische Merkelsche Grenzöffnungspolitik samt Ausrufung einer „Willkommenskultur“ für lau und gegenüber jedermann nur in Deutschland stattfinden. In Rede stehen hier übrigens nur Parallelen, keine Kausalitäten.

„Diesen Kuß der ganzen Welt!“ – das kommt eben nicht aus der „Welt“, sondern aus der deutschen Provinz. Wer die Welt kennt, will sie nicht küssen. Wer die Welt kennt, weiß, was auf ihr herumwimmelt und daß für alle Ideale am Ende irgendwer den Preis zahlt.

In Schillers späten Worten: „Erloschen sind die heitern Sonnen,/ Die meiner Jugend Pfad erhellt,/ Die Ideale sind zerronnen,/ Die einst das trunkne Herz geschwellt,/ Er ist dahin, der süße Glaube/ An Wesen, die mein Traum gebar,/ Der rauhen Wirklichkeit zum Raube,/ Was einst so schön, so göttlich war.“