© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Raki im Nachtclub
Istanbul: Als westlicher Tourist unterwegs in der türkischen Metropole
Claus-M. Wolfschlag

Mißtrauen ist angebracht. Rasch wird man im Zentrum Istanbuls als Tourist identifiziert und mit allerlei Tricks umworben. Junge Männer, die einen mit „Hello, my friend“ ansprechen und sich als Fremdenführer anbieten, sind noch die offensichtlichste Variante. „Als Tourist zahlt man am Schalter der privaten Fähren oft einen anderen Preis als die Einheimischen“, weiß ein Reisender aus Deutschland zu berichten. Meist aber passiert die Kontaktaufnahme subtiler. 

Ein älterer Herr im Anzug erklärt beim Betreten des Innenhofes der Blauen Moschee, daß diese gerade geschlossen sei, weil Gebetsstunde herrsche. Er könne nur anbieten, eine gute Stelle für ein Außenfoto zu zeigen. „Aus Deutschland sind Sie? Ich liebe die Deutschen. Ich habe Verwandte in Düsseldorf wohnen.“ Die vermeintliche Aufsichtsperson entpuppt sich rasch als Werber. Und nach dem freundlichen Gespräch könne man ihm nun doch nicht abschlagen, auf einen Tee mit ins Geschäft zu kommen. „Mögen Sie eigentlich Teppiche? Seien Sie so freundlich. Sie brauchen nur mal schauen. Sie müssen nichts kaufen, wir bleiben auch so Freunde“, sagt er. Wer folgt, sieht sich drei Minuten später einer Gruppe Händler gegenüber. Einer serviert einen Apfeltee, zwei halten einem handgeknüpfte Ware entgegen, während der vierte einen nach seinen farblichen Vorlieben befragt. Doch nicht jede Begegnung läuft nur nervig und harmlos ab.

Geschäftsinhaber geben Druck an Türsteher weiter

„Es passieren teils scheußliche Dinge in Istanbul. Deutsche Freundinnen haben mir schon von massiven Belästigungen berichtet“, klagt Nazan Bahç?van, während sie ein veganes Mahl serviert. Die Künstlerin lebte lange in Berlin und betreibt nun das kleine, versteckt in einer Seitenstraße von Sultanahmets Altstadt liegende „Mitara Café & Art“. Kurdische Clans würden oft hinter den penetranten Verkaufsversuchen stecken. Zudem seien die Mieten für Ladengeschäfte und Restaurants in Sultanahmet mittlerweile immens. Bis zu 30.000 Euro würde ein geräumiges Etablissement monatlich kosten. Kein Wunder also, wenn Restaurant- und Geschäftsinhaber den Druck an ihre Türsteher auf den Straßen weitergeben. Die Polizei sei aber stets der richtige Ansprechpartner, erklärt Bahç?van. Ihr sollten Reisende vertrauen.

Die Nervosität und Polizeipräsenz in Istanbul ist unübersehbar. Im Januar 2016 hatte sich ein Selbstmordattentäter beim antiken Hippodrom inmitten einer deutschen Reisegruppe in die Luft gesprengt. Zwölf Menschen starben. Im Juni kam es bei einem Anschlag am Atatürk-Flughafen zu mehr als 30 Toten. Auf den wichtigen Plätzen stehen somit mißtrauisch umherblickende Polizisten mit Maschinenpistolen. Vor der Hagia Sophia kurvt ein Panzerwagen zwischen den Mais-Ständen hin und her. Vor dem Betreten jeder Sehenswürdigkeit müssen die Touristen durch eine bewachte Sicherheitsschleuse.

„Viele Leute hier sind Erdogan dankbar“

„Wir hatten in letzter Zeit mehrere Terroranschläge. Dann der Putschversuch. Nur darüber schreiben die westlichen Medien und prägen dadurch die Wahrnehmung in Ihrem Land. Das hat viele westliche Touristen sehr verunsichert, was wir hier spüren. Die Buchungen gingen zurück, die Preise sind im Keller“, berichtet Hotelmanager Sahan. 

Drei Frauen, eine mit Kopftuch, warten an der Fußgängerampel einer vielbefahrenen Straße im asiatischen Stadtteil Üsküdar. Plötzlich wechselt die türkische Konversation in die deutsche Sprache. „Wie die hier Auto fahren, das ist ja unmöglich. Ich habe unlängst ein Strafmandat bekommen, weil mein Warnblinker nicht richtig funktionierte. Aber denen hier ist ja offenbar alles egal“, meint die Jüngste kopfschüttelnd. Aus Köln sind sie, und wie viele Deutsch-Türken besuchen sie die Metropole am Bosporus als Touristen.

„Die Deutsch-Türken tragen die Nase oben. Die halten sich für besser als wir“, erzählt Selim. Wir sitzen in einem Fischrestaurant in Istanbuls Hafenviertel Karaköy nahe der zu jeder Tageszeit mit Unmengen von Anglern gesäumten Galatabrücke. Dann kommt das Gespräch auf die Politik. „Viele Leute hier sind Erdogan dankbar. Die wirtschaftliche Lage hat sich unter seiner Regentschaft deutlich verbessert. Die moderne U-Bahn ist zum Beispiel noch ein Projekt aus seiner Zeit als Oberbürgermeister. Erdogan saß ja 1999 im Gefängnis. Ich glaube, daß er in dieser Zeit sehr viel gelernt hat, das er heute anwendet. Nun wird er nach dem Putsch noch mehr Macht an sich ziehen, und die Mehrheit hier steht dahinter.“ Nur das Kurdenproblem sei ungelöst, da diese Minderheit nach Eigenständigkeit strebe, sagt Selims neben ihm sitzender Arbeitskollege.

Ich habe Selim zufällig am Abend auf der Straße kennengelernt. Er stellte, erst in Türkisch, dann in Englisch, eine Frage zu den nächtlichen Fahrzeiten der Trambahn, die durch das alte Stadtquartier Sultanahmet fährt. Er arbeite für eine Textilmaschinenfabrik aus Izmir, sagt er, sei selbst fremd in der Stadt, sei nur wenige Tage aus beruflichen Gründen hier. Er fragt, wo wir doch beide allein unterwegs seien, ob wir nicht zusammen zu Abend essen möchten. Trotz meines anfänglichen Mißtrauens willige ich ein.

Selim ist sehr freundlich, wirkt wie ein smarter Student. Herzlich begrüßt er den ihm offenbar gut bekannten Ober des Restaurants, so daß wir trotz langer Schlange sofort einen Platz bekommen. Sagte er nicht, er sei fremd? Wann soll die Falle zuschnappen? frage ich mich. Als Selim längere Zeit auf Toilette geht, mutmaße ich, daß er nicht wiederkehren wird und mich mit der Rechnung sitzenläßt. Doch er kommt wieder. Sein älterer, noch freundlicherer Arbeitskollege im Anzug gesellt sich später zu uns. Wir reden über Tradition und Geschlechterrollen. „Schrecklich langweilig“ findet Selim die Mädchen in Kopftuch und langen Gewändern. „Die hat vermutlich noch nicht mal ihr Ehemann nackt gesehen.“ Selim schaut ständig nach den in Minikleidern umherlaufenden Schönheiten. Er stehe auf westlich gekleidete Frauen, am liebsten aus dem Ausland: „Die türkischen Frauen sind eingebildet und reden zuviel.“ Als sein Kollege erzählt, sich nach zwölf Jahren erstmals mit seiner Ex-Freundin auf einen Kaffee getroffen zu haben und noch ganz gerührt sei, ist es mit Selims Toleranz vorbei. „Das gehört sich für einen verheirateten Mann nicht.“

Traditionell islamische und westlich beeinflußte Lebenswelten existieren in Istanbul parallel nebeneinander. Mädchen mit Kopftuch laufen plaudernd neben solchen mit offenem Haar und engen Jeans. Mehrmals täglich erschallen die lauten Muezzinrufe der verschiedenen Moscheen wie eine Symphonie durch die ganze Stadt, während abends der Raki zu Popmusik in den Restaurants serviert wird.

Mein Mißtrauen gegen Selim verfliegt gänzlich, als er darauf besteht, die Rechnung für das Abendessen zu bezahlen. Er und sein Kollege würden noch in eine Bar auf ein letztes Getränk gehen, erzählt er, und ich kann ihm seine Bitte, doch noch mitzukommen, kaum abschlagen.

Der Manager serviert eine Rechnung über 1.500 Euro

Wir fahren mit dem Taxi zum Taksim-Platz, der 2013 durch die studentische Protestbewegung bekannt geworden ist. Kurze Zeit später sitzen wir im „Playshow Night Club“ und Selim ordert eine weitere Flasche Raki. Ich bin verwirrt, daß alle Frauen allein sitzen. Selim antwortet kryptisch. Doch schon gesellen sich drei Damen zu uns, Selim und sein Freund ordern Getränke für ihre Tischpartnerinnen, und ich gerate unter Zugzwang, auch zum Cocktail für die mich anlächelnde ukrainische Schönheit neben mir zu nicken. Ich bin müde, einen Moment unaufmerksam und merke zu spät, in eine Animierbar geschleppt worden zu sein.

Als ich nach einer halben Stunde gehen will, serviert mir der Manager eine Rechnung über 1.500 Euro, von der ich zumindest die Hälfte zahlen soll. Ich habe nur knapp 50 Euro bei mir, die mir sofort abgenommen werden. Als ich sage, kein weiteres Geld zu haben, werde ich gefilzt und unter Druck gesetzt, doch ich bleibe eisern bei der Aussage, weder über Geld noch Kreditkarte zu verfügen. Nach längerem Hin und Her darf ich schließlich ohne Blessuren den Club verlassen.

Am Gezi-Park kommt mir ein nun sichtlich angeschlagener Selim hinterhergelaufen, sagt, daß er mir „nicht traue“, und fordert „sein Geld“, das er angeblich für mich ausgelegt habe. Doch als ich hartnäckig bleibe, hält ihn sein Kollege fest und gibt mir zu verstehen, zu gehen. Den ganzen Abend hatte Selim wohl auf dieses Finale hingearbeitet, um nun vor seinen vermutlichen Auftraggebern mit leeren Händen dazustehen. Es war mein Fehler, mich überhaupt ansprechen zu lassen. Sein Fehler war es, sich den Falschen ausgesucht zu haben.

Ohne einen Cent wandere ich zu Fuß durch die mit jungen Bar- und Diskothekenbesuchern prallvollen Straßen Beyoglus, vorbei am Galataturm, den weiten Weg zurück. Nieselregen weicht mich auf, doch ich bin froh, unbeschadet entkommen zu sein. Als ich, meine Lage erklärend, eine junge Frau auf der Straße nach dem Weg frage, sagt sie: „Komm, steig in mein Auto, ich fahre dich.“ Fast jeder Türke scheint eine Beziehung zu Deutschland zu haben. In Deutschland wäre sie einmal gewesen, weil ihr Ex-Freund in Frankfurt lebte, erzählt Vesile während sie durch die engen, teils von ruinösen Wohngebäuden gesäumten Gassen ohne Rücksicht auf Einbahnstraßenregelungen rast. Doch die Beziehung sei nicht gut gelaufen, weshalb sie Frankfurt mit etwas Negativem verknüpfe. Ich antworte, es sei ihr zu verdanken, daß ich den Abend mit etwas Positivem verknüpfe.