© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 07/17 / 10. Februar 2017

Desparate Söhne des Weimarer Wahlvaters
Bürger und Künstler im Massenzeitalter: Zum Briefwechsel Gottfried Benn und Friedrich Wilhelm Oelze
Dirk Glaser

Ende 1932 entschloß sich der Bremer Großkaufmann Friedrich Wilhelm Oelze, an Gottfried Benn zu schreiben, um den in Berlin-Kreuzberg als Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten praktizierenden Schriftsteller persönlich kennenzulernen. Anlaß war dessen Essay „Goethe und die Naturwissenschaften“, erschienen im Gedenkheft der Neuen Rundschau, zum 100. Todestag des Dichterfürsten am 22. März 1932. Den hatte die erste deutsche, 1919 in Weimar aus der Taufe gehobene Republik in demonstrativ großem Stil zelebriert, um dem innenpolitischen Belagerungszustand und der Weltwirtschaftskrise mit einer Kulturoffensive unter der Parole „Zurück zu Goethe“ zu begegnen.

Oelze, in dessen „Alt-Bremer Patrizierhaus Goethe seit Generationen sehr gepflegt“ worden war, wie Benn später einmal ironisch bemerkte, schien hingegen abgeblitzt, als ihn kurz vor Weihnachten eine lakonische Antwort aus Berlin erreichte: „Mir eine große Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern steht. Seien Sie vielmals gegrüßt.“

Der misanthrope Zyniker Benn („unterhaltlich bin ich kein Matador“) wehrte mit diesem Billet einmal mehr einen zudringlichen Leser ab, und der Fall war für ihn erledigt. Nicht so für seinen hartnäckigen Verehrer und Bewunderer, der als „Herr Oelze aus Bremen“ in die Literaturgeschichte eingehen sollte. Ihm gelang es, Benn sukzessive aus der Reserve zu locken und einen Briefwechsel anzuschieben. 1933/34 zunächst noch stockend, dann rasch Fahrt aufnehmend. Als Benn im Juli 1956 stirbt, sind 1.349 Briefe und Karten zusammengekommen. Tatsächlich waren es wohl deutlich mehr, aber der seit 1935 als kulturpolitisch „untragbar“ stigmatisierte, von der SS-Intelligentsia öffentlich attackierte Benn hatte politisch kompromittierende Briefe aus Furcht vor der Gestapo vernichtet. 

Oelze war Benn durchaus „geistig gewachsen“

Gleichwohl blieb eine imposante Textmasse erhalten, deren erstmalige, dreibändige Edition (1977 bis 1980) Feuilleton und Forschung einhellig als einzigartiges Panorama deutscher Geistes- und Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts begrüßten. Nicht von ungefähr ist es die Korrespondenz Benn–Oelze, auf die, neben den Diarien von Victor Klemperer und Thomas Mann, Walter Kempowskis „Echolot“, sein kollektives Tagebuch aus dem Zweiten Weltkrieg, am häufigsten zurückgreift.

Der Zugewinn der wiederum federführend vom Bonner Germanisten Harald Steinhagen besorgten, nunmehr stattliche vier Bände umfassenden Neu-edition besteht in dem vertieften und erweiterten, mit zahlreichen Abbildungen bereicherten Kommentar, der vor allem die zeithistorisch-politischen Kontexte für eine jüngere Lesergeneration heller ausleuchtet und der das soziale Beziehungsnetz der Briefpartner detaillierter als vor dreißig Jahren freilegt. Wobei Steinhagen von den Quellen und Materialien profitiert, die von 1980 an die Arbeit an der kritischen Stuttgarter Ausgabe der Werke Benns erschlossen hat.

Keine Frage, daß der Schwerpunkt des Unternehmens darauf liegt, der Benn-Forschung zu dienen. Aber es ist alles andere als nur ein Nebeneffekt, wenn damit Oelzes nicht zu unterschätzender Einfluß auf Benns künstlerische Produktion jetzt noch klarer zutage tritt. Denn gegen den äußeren Anschein seines Lebenslaufs war der promovierte Jurist – Kriegsfreiwilliger von 1914, Freikorpskämpfer, 1921 ins kaufmännische Fach gewechselt, Import von Kolonialwaren und Getreide –, seinem Briefpartner durchaus „geistig gewachsen“, wie Steinhagen betont. An historischer Kenntnis, literarischer Belesenheit und Bildung im traditionellen Sinne sei er dem fünf Jahre älteren, 1886 geborenen Benn „manchmal wohl gar voraus“ gewesen. Darüber täuschen unzählige, von grenzenloser, oft unterwürfiger Verehrung zeugende Devotionsformeln in der Korrespondenz nur allzu leicht hinweg.

Herkommen und Beruf hätten den polyglotten Importeur eigentlich an einen anderen Goethe-Vermittler verwiesen: Thomas Mann, der 1932 zwischen Benn, André Gide und Ortega y Gasset ebenfalls in der Neuen Rundschau zu Wort kam. Mit einer Rede über „Goethe als Repräsentant des bürgerlichen Zeitalters“. Warum wollte Oelze nicht lieber mit Thomas Mann ins Gespräch kommen, wie er Hanseat, Patriziersohn, Bildungsbürger, Goethe-Enthusiast? Weil er die politische Vision, in die Manns Rede mündet, die zwecks Rettung der Weimarer Demokratie vor dem Nationalsozialismus empfohlene Allianz zwischen Goethe und Marx, Bürgertum und Arbeiterbewegung, Liberalismus und Sozialismus für illusionär hielt. Eine Überzeugung, in der ihn Benns Goethe-Deutung bestärkte. Der gerade beim bürgerlichen Publikum als „satanischer Nihilist“ verschriene Mediziner präsentierte den alten Goethe mit einer Standortbestimmung von 1828, wonach er sich als „letzten einer Epoche“ gesehen habe, „die so bald nicht wiederkehrt“. An die Stelle der „ungetrennten Existenz“, wie sie Goethe exemplarisch vorgelebt habe, trat das entfremdete Dasein in der Massengesellschaft, die „Zivilisation“ und, Schlüsselworte schon der frühen Texte Benns: „Ichzerfall“, „Realitätszerfall“.

Der erdrückenden Mehrheit der Intellektuellen und Künstler, die sich Ende der zwanziger Jahre für den Sozialismus und Stalins Sowjetparadies begeisterten, hielt der Polemiker Benn deswegen seinen anthropologischen Pessimismus entgegen. Dem kapitalistischen Gefängnis der Zivilisation sei nicht durch Revolution oder ein „Fortschrittsgetöse und den Kult der Gleichheit“ zu entkommen. Der Mensch bleibe in allen Wirtschaftssystemen ein tragisches Wesen, ein gespaltenes Ich, dessen Abgründe sich nicht durch Vogelfutter für alle, „durch Streuselkuchen und Wollwesten auffüllen lassen“. 

Vermutlich nicht erst unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise, die Oelze 1931 einen Teil des Vermögens raubte, suchte auch er den Sinn des Lebens jenseits von Geschichte und sozialen Utopien, im metaphysischen Reich der Kunst. In welcher meilenweiten Distanz der scheinbar reibungslos sich ins Gemeinwesen seines Stadtstaates integrierende Kaufmann und „Weltmann“, eine „Synthese aus Oxford und Athen“, zu der ihn Benn stilisierte, zu seinen Mitbürgern befand, ergibt sich im krassen Kontrast aus der 1969 veröffentlichten Autobiographie Theodor Spittas (1873–1969), Bremer Bürgermeister von 1920 bis 1928 und wieder von 1931 bis 1933. Liebenswürdige nationalliberale Harmlosigkeit, „aufrechter Demokrat“, Organisator des Schul- und Bildungswesens in der Hansestadt, die sich damals keine Universität leisten konnte, Freund Worpsweder Künstler und von Literaten wie Rudolf Alexander Schröder, dem Bremer Architekten und Onkel der Bremer Honoratiorentochter Marie Luise Voigt, verheiratet mit Rudolf Borchardt, mit dem auch Oelze sich befreundete. 

Bildungsbeflissene Juristen wie Spitta oder der aus Bremen stammende Anton Kippenberg, der seinen Insel-Verlag zu einer Gralsburg der Goethe-Religion ausbaute und der in Leipzig die größte private Goethe-Sammlung der Welt hortete, huldigten wie Thomas Mann „Goethe als Repräsentanten des bürgerlichen Zeitalters“, das für Benn und Oelze nach 1832 aber gerade endete, weil seitdem die „Zivilisation“ des egoistischen Bourgeois die „Kultur“ des altruistischen Bürgers verdrängte, wie von Thomas Mann in den „Buddenbrooks“ hinreichend plastisch dargestellt.

Den Blick auf ihren „Wahlvater“ Goethe gerichtet, den sie nicht als harmonischen Olympier und Hüter bürgerlicher Werte begriffen, lebten die hoffnungslosen Außenseiter Oelze und Benn, stets fashionabel gekleidet, hinter bürgerlichen Masken in radikaler Opposition, nicht betört von den „großen Erzählungen“ des Zeitalters der Extreme, nicht zum Mitmachen animiert durch „Wiederaufbau“, „Westbindung“ und „Abendland“-Ideologie unter der Herrschaft amerikanischer „Kaugummimaharadschas“ und des „alten Separatisten“ Adenauer, der die Bundesrepublik in die sich abzeichnende Europäische Wirtschaftsgemeinschaft „katholisch integriert“ (Oelze). So liest sich dieser Briefwechsel wie ein monumentaler Fortsetzungsroman zu Nietzsches „Unzeitgemäßen Betrachtungen“, der „die Wirklichkeit der Anderen“ (Oelze) gnadenlos zerlegt.

Harald Steinhagen u. a. (Hrsg.): Gottfried Benn/Friedrich Wilhelm Oelze, Briefwechsel 1932–1956. Wallstein Verlag, Göttingen 2016, 4 Bände, 2.334 Seiten, Abbildungen, 199 Euro