© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Das Ende eines deutschen Machtstaates
Am 25. Februar 1947 erließ der Alliierte Kontrollrat das Gesetz Nr. 46 zur Auflösung des Staates Preußen
Dag Krienen

Als das Gesetz Nr. 46 des Alliierten Kontrollrats vom 25. Februar 1947 in Artikel 1 den „Staat Preußen, seine Zentralregierung und seine nachgeordneten Behörden“ für aufgelöst erklärte, war das für das alltägliche Leben der Deutschen ohne Belang. Soweit sie mit einheimischen Verwaltungsbehörden zu tun hatten, waren diese keine „preußischen“ mehr. 

Die Siegermächte hatten in ihren Besatzungsgebieten bereits nach eigenem Gutdünken preußische Gebiete auf die von ihnen geschaffen neuen Länder und Verwaltungseinheiten verteilt. Die Präambel des Kontrollratsgesetzes stellte denn auch fest, daß der Staat Preußen „in Wirklichkeit [bereits] zu bestehen aufgehört hat“. Wurde hier „also nur ein längst Verblichener abermals exekutiert“ (Gilbert Gornig), war es „nur der Fußtritt, den siegreiche Esel einem längst toten Löwen gaben“ (Golo Mann)?

Unter Juristen herrscht die Meinung vor, daß das Kontrollratsgesetz Nr. 46 lediglich deklaratorischen Charakter gehabt habe, allenfalls noch letzte rechtliche Unsicherheiten bereinigen sollte, die sich bei der Verteilung der ehemals preußischen Provinzen ergeben mochten. Artikel 2 bestimmte entsprechend, daß die „der Oberhoheit des Kontrollrats“ unterstehenden Gebiete Preußens die „Rechtsstellung von Ländern erhalten oder Ländern einverleibt“ werden sollten. Gemäß Artikel 3 sollten „Staats- und Verwaltungsfunktionen sowie Vermögen und Verbindlichkeiten des früheren Staates Preußen“ auf diese Länder übertragen werden. 

Jüngst hat nun der Historiker Gerhard Dassow behauptet („Die Auflösung des Staates Preußen“, Frankfurt am Main 2016), daß für die Alliierten der Erlaß des Gesetzes keine administrative Nebensächlichkeit war, sondern „der Schlüssel zur endgültigen Lösung der ‘Deutschen Frage’, und zwar gleichermaßen in deren europäischer Bedingtheit als auch bezüglich der inneren Verfaßtheit des künftigen Deutschlands“. Die Auflösung Preußens als territorialer Einheit sei dabei im stillschweigenden Konsens mit den Deutschen erfolgt. Ohne dies zunächst zu beabsichtigen, hätten die Siegermächte so wichtige Voraussetzungen für die spätere reibungslose Einordnung eines föderalen Deutschlands in Europa geschaffen.

Den Siegermächten eine derart konstruktive Rolle bei ihrem destruktiven Schlußakt zuzuschreiben, ist Geschmackssache. Richtig ist allerdings, daß das Gesetz des Kontrollrats staatsrechtlich nur der Schlußpunkt einer „Auflösung [Preußens] in Raten“ (Manfred Görtemaker) bildete, die seit längerem von vielen Deutschen befürchtet, erwogen oder angestrebt worden war. Schon König Wilhelm I. hatte 1871 den deutschen Kaisertitel nur widerstrebend angenommen, weil er einen raschen Bedeutungsverlust Preußens gegenüber dem neuen Reich befürchtete. 

Für Hans-Joachim Schoeps begann damit die bloße Nachgeschichte Preußens, Joachim Fernau ließ seine Geschichte Preußens sogar konsequent mit der Kaiserkrönung enden. Die hegemoniale Stellung, die der preußische Staat nicht nur aufgrund seiner Größe im Zweiten Kaiserreich besaß – die Position des Kaisers fiel stets dem preußischen König zu, der preußische Ministerpräsident war mit zwei kurzen Ausnahmen immer auch Reichskanzler, läßt solche Urteile aber als voreilig erscheinen. Die vielfältigen Verschränkungen von Preußen und Reich erwiesen sich allerdings nach Bismarcks Abberufung 1890 zunehmend als problematisch.

Preußens Staatlichkeit hörte bereits 1934 auf

Doch erst nach dem Ende der Monarchie 1918 wurde der Fortbestand des Staates Preußen in dem zur Republik gewordenen Reich ernsthaft in Frage gestellt. Der Autor der Weimarer Verfassung, Hugo Preuß, wollte ihn sogar ganz auflösen, um Deutschland in 14 in etwa gleich große Freistaaten aufzuteilen. Durchsetzen konnte er sich nicht. Die Weimarer Verfassung stärkte zwar die Rechte des Reiches gegenüber den „Ländern“, wie sie jetzt hießen, deutlich, beließ ihnen aber gewisse Staatsqualitäten und eigene politische Gestaltungsräume sowie den überkommenen Gebietsstand.

Preußen wurde so einerseits zu einem deutschen Land unter gleichen, anderseits umfaßte es immer noch zwei Drittel der Bevölkerung und drei Fünftel des Reichsgebiets. Es war weiterhin in der Lage, im größten Teil Deutschlands wichtige politische Angelegenheiten nach eigenem Ermessen zu regeln. Zudem erwies sich Preußen nun als „republikanische Bastion“. Die Weimarer Koalition von SPD, Zentrum und Liberalen stellte dort, anders als im Reich, von 1920 bis 1932, unter Ministerpräsident Otto Braun, einem Sozialdemokraten, nahezu ununterbrochen die Regierung. 

Das führte dazu, daß das zunächst vor allem auf der politischen Linken beliebte Schmieden von Plänen zu einer territorialen „Reichsreform“ nun eher in der Mitte und bei den Rechten populär wurde. Diese Pläne sahen meist entweder die komplette Auflösung Preußens oder zumindest die Aufwertung seiner Provinzen zu eigenständigen Ländern vor. Durchgesetzt werden konnten sie zunächst nicht, auch wegen des Widerstandes der süddeutschen Länder, die durch eine Reichsreform ihre eigene Hoheitsgewalt gefährdet sahen.

Die vom Reichspräsidenten Paul von Hindenburg ernannte Reichsregierung unter Franz von Papen, die einen autoritären Verfassungsumbau anstrebte, schaltete schließlich im Sommer 1932 die republikanisch gesinnte preußische Landesregierung durch den „Preußenschlag“ aus. Preußen wurde fortan faktisch durch einen Reichskommissar regiert. Das erleichterte 1933 den Nationalsozialisten ihre Arbeit erheblich. Hermann Göring wurde zum Innenminister und bald auch zum Ministerpräsidenten Preußens bestellt. 

Das Gesetz über den Neuaufbau des Reichs vom 30. Januar 1934 hob schließlich die Hoheitsrechte der Länder auf und unterstellte sie der Berliner Zentralgewalt. Für Reichsinnenminister Frick war damit der deutsche Einheitsstaat geschaffen worden. Preußen verlor so wie die anderen Länder die Reste seiner Staatlichkeit, blieb aber als Verwaltungsgebiet und eigenes Rechtssubjekt erhalten. Daß in der Folge nahezu alle preußischen Landes- mit den entsprechenden Reichsministerien zusammengelegt wurden, änderte nichts daran. Das Reich blieb auf den Unterbau der Verwaltungsbehörden der Länder angewiesen. 

Pläne zu einer umfassenden territorialen Reform des Reiches und zur Zerlegung Preußens wurden zunächst ad acta gelegt, als Hitler 1935 ihre weitere öffentliche Erörterung untersagte. So kam bis 1945 nur in wenigen Fällen ein Austausch kleinerer Gebiete und Enklaven zwischen Preußen und anderen „Ländern“ zustande. 1941 kündigte Hitler allerdings für die Zeit nach dem Krieg eine umfassende Gebietsreform unter Auflösung Preußens an. 

Für die Alliiierten ein zu exorzierendes Dämonenbild

Ähnliches strebte auch der stark von preußischen Traditionen und Adelsfamilien geprägte Widerstand des „20. Juli“ an, der auf Preußens Eigenstaatlichkeit keinen Wert mehr legte. Auf der pragmatischen Ebene der inneren Neugliederung Deutschlands exekutierten die Alliierten 1945 bis 1947 insoweit nur das, was die Deutschen einschließlich Hitler schon zuvor diskutiert und geplant hatten, allerdings ohne Amputation der Gebiete östlich von Oder und Neiße. 

Aber natürlich war damals allen Zeitgenossen klar, daß dies nicht der einzige Zweck dieses Gesetzes war. Ihre eigentliche Absicht brachten die Alliierten in seiner Präambel zum Ausdruck, wo sie dem Staat Preußen unterstellten, „seit jeher Träger des Militarismus und der Reaktion in Deutschland gewesen“ zu sein. Das „Interesse an der Aufrechterhaltung des Friedens und der Sicherheit der Völker“ und die Sicherung der „weiteren Wiederherstellung des politischen Lebens in Deutschland auf demokratischer Grundlage“ geböten es, diesen Staat endgültig zu eliminieren. 

Hier trat eine vor allem von den Westmächten schon im Ersten Weltkrieg kultivierte Ideologie zutage, für die auch der Nationalsozialismus „nichts weiter [war] als die jüngste Manifestation des Preußentums“ (Christopher Clark). Es waren denn auch die in der Kunst des frommen Selbstbetrugs nicht ganz unbewanderten Briten, die im Alliierten Kontrollrat seit dem Sommer 1946 auf die endgültige Auflösung Preußens, das „in den letzten 200 Jahren eine Bedrohung für die Sicherheit Europas dargestellt“ habe, drängten. 

Stalin hielt sich zunächst zurück. Sentimentale Erinnerungen an Zeiten preußisch-russischer Verbundenheit wie in den Napoleonischen Kriegen spielten dabei keine Rolle. Er wollte Einfluß auch in den westlichen Besatzungszonen gewinnen. Der zonenübergreifende preußische Staatszusammenhang hätte sich dazu vielleicht instrumentalisieren lassen. Die Sowjets titulierten jedenfalls die neugebildeten Landesregierungen in ihrer Zone im Falle Brandenburgs und Sachsen-Anhalts bis Juli 1947 als „Provinzialverwaltungen“. Stalin erkannte aber schließlich, daß mit Preußen kein Staat mehr zu machen war und gab dem westlichen Drängen zu einer gemeinsamen Auflösungserklärung nach.

Die in der Präambel artikulierte elementare Preußenfeindlichkeit war indes nur ein, wenn auch von vielen Vertretern der Westmächte internalisiertes, ideologisches Versatzstück, ein zu exorzierendes Dämonenbild von einem Staat, der, „sei es nur in Gestalt seines Namens“, wie es der britische Vertreter im Kontrollrat fürchtete, zum Ausgangspunkt neuer „revanchistischer“ und „militaristischer Bestrebungen“ in Deutschland werden könne. 

Nachdem es in zwei Weltkriegen jeweils der Anstrengungen fast aller anderen großen Mächte der Welt bedurft hatte, Deutschland niederzuringen, erscheint diese Angst und sogar ihr Umschlagen in einen abergläubischen Traditions- und Namensexorzismus durchaus verständlich. In die nüchterne Sprache der politischen Praxis übersetzt, brachten die Alliierten mit der dermaßen begründeten Auslöschung Preußens jedoch vor allem ihre Entschlossenheit zum Ausdruck, in der Mitte Europas nie wieder ein Staatswesen entstehen zu lassen, das aus eigener Kraft zu einer effektiven militärischen und politischen Selbstbehauptung in der Lage sein würde. Und dafür hatte der Name Preußen tatsächlich gestanden.