© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 08/17 / 17. Februar 2017

Der Mäusefänger des roten Kapitals
Mit seiner „sozialistischen Marktwirtschaft“ hat Deng Xiaoping China aus der Armut geführt
Peter Kuntze

In der Gorbatschow-Ära orakelte Innenminister Wadim Bakatin: „Den Sozialismus in einen Kapitalismus zu verwandeln, ist so, als wolle man aus einem Omelette wieder Eier machen.“ Was in Rußland bis heute nicht so recht gelingen will, hat Deng Xiaoping zustande gebracht. Der „pfeffrige Napoleon“, so der Spitzname Dengs, der nur 1,52 Meter maß und dem ein scharfer Verstand nachgesagt wurde, hatte für das scheinbare Paradox eine geniale Lösung gefunden. Sie heißt bis heute „sozialistische Marktwirtschaft“. Wenn es sogar im Kapitalismus Planung gibt, warum dann im Sozialismus nicht Markt? Schließlich, so Dengs Leitmotto, „ist es egal, ob eine Katze schwarz oder weiß ist – Hauptsache, sie fängt Mäuse“. Der Erfolg hat ihm recht gegeben.

Noch 1969 wurde Deng zur „Umerziehung“ verbannt

Aus dem Armenhaus China, in dem noch 1978, zwei Jahre nach dem Tod Mao Zedongs, eine katastrophale Mangelwirtschaft herrschte, ist ein moderner Staat geworden. Vor allem aber reduzierte sich in relativ kurzer Zeit die Zahl der Armen um 500 Millionen – ein historisch einmaliger Vorgang. Heute ist China die zweitgrößte Wirtschaftsmacht und größter Gläubiger der USA. Der vor zwanzig Jahren gestorbene Deng Xiaoping, der dreimal entmachtet wurde und dreimal auf die politische Bühne zurückkehrte, ist für die 1949 proklamierte Volksrepublik zur wichtigsten Persönlichkeit geworden – bedeutender als selbst ihr Gründer Mao.

1904 in der Provinz Sichuan geboren, ging Deng mit sechzehn Jahren als Werkstudent nach Frankreich. Nach einem weiteren Studienaufenthalt in Moskau kehrte er 1927 in die Heimat zurück, wo nach dem Ende des Kaiserreichs ein Bürgerkrieg entbrannt war. Deng, bereits in Paris Mitglied der Exil-KP geworden, mußte 1929 den ersten Rückschlag seiner Karriere hinnehmen, als er wegen „Rechtsabweichung“ seinen Posten als Generalsekretär des Zentralkomitees verlor. Während des berühmten Langen Marsches (1934 bis 1936) unterstützte Deng den Parteiflügel um Mao und war sowohl im Guerillakrieg gegen die Japaner als auch im Kampf gegen Tschiang Kai-scheks Truppen einer der erfolgreichsten Militärführer.

Nach Gründung der Volksrepublik schien Deng Xiaopings Aufstieg unaufhaltsam zu sein: Als Vize-Regierungschef wurde er Stellvertreter Zhou Enlais und übernahm erneut den Posten des ZK-Generalsekretärs. Doch 1966, kurz nach Beginn der „Kulturrevolution“, kam das zweite Aus. Bei Mao und den Linken als „Machthaber auf dem kapitalistischen Weg“ in Ungnade gefallen, mußte Deng alle Ämter abgeben. 

Drei Jahre später wurde er „zur Umerziehung“ in die Provinz verbannt. Am furchtbarsten für ihn und seine Frau war das Schicksal ihres Sohnes Deng Pufang: Der Physik-Student wurde von Rotgardisten gefoltert, bis er aus dem vierten Stock des Pekinger Universitätsgebäudes sprang und sich das Rückgrat brach. Als Querschnittsgelähmter gründete Pufang später den Chinesischen Behindertenverband. Für sein Engagement wurde er 2003 mit dem Menschenrechtspreis der UN ausgezeichnet.

Der todkranke Ministerpräsident Zhou Enlai sorgte dafür, daß Deng Xiaoping 1973 nach Peking zurückkehren konnte, um die laufenden Geschäfte in Regierung, Partei und Armee zu übernehmen. Doch 1976, im Schicksals- und Wendejahr der Volksrepublik, kam es zu Dengs drittem Sturz. Nach dem Tod seines Mentors Zhou ging die linksradikale „Vierer-Bande“ in die Offensive gegen ihren gefährlichsten Widersacher. In den Medien ließ sie kolportieren, der greise Mao habe Deng erneut scharf gerügt: „Dieser Mensch packt den Klassenkampf nicht an. Also noch immer ‘weiße Katze, schwarze Katze’.“ Damit war Dengs Schicksal besiegelt. Diesmal jedoch gelang ihm ein rasches Comeback. Wenige Wochen nach Maos Tod am 9. September wurde die „Vierer-Bande“ verhaftet und Deng zum drittenmal rehabilitiert. Jetzt begann eine neue Ära, die unter dem Namen „Sozialismus chinesischer Prägung“ einer konservativen Revolution gleicht.

Der Reformer verantwortete das Tiananmen-Massaker

Deng, der im Gegensatz zu Mao kein Visionär, sondern Pragmatiker war, gab die Devise aus, die Wahrheit stets in den Tatsachen zu suchen und nicht in ideologischen Lehrbüchern. Als erstes ließ er die Volkskommunen auflösen und erlaubte den Bauern die Privatwirtschaft. Reich zu werden, so ermunterte er sie, sei ehrenhaft – eine Umkehrung aller bisherigen Maximen. 1979 präzisierte er seine Reform- und Öffnungspolitik. Probeweise wurden in fünf Küstenstädten Sonderwirtschaftszonen eingerichtet, in denen ausländische Investoren günstig produzieren konnten. Da das Experiment überaus erfolgreich war, wurde es großflächig ausgeweitet, so daß bald massenhaft Kapital und Know-how ins Land flossen.

Ende der achtziger Jahre zeigten sich jedoch die Schattenseiten des rasanten Aufschwungs: hohe Inflationsraten, Korruption auf allen Ebenen und eine gigantische Umweltverschmutzung. Besonders unter Intellektuellen und Arbeitern der Staatsbetriebe wuchs der Unmut, denn sie waren anfangs die großen Verlierer der Reformen. Im Frühjahr 1989 formierte sich der Protest zu einer so großen Demokratiebewegung, daß Deng sein Lebenswerk bedroht sah. In der Nacht zum 4. Juni ließ er den „konterrevolutionären Putsch“ niederschlagen. Bei dem „Tiananmen-Massaker“ kamen nach offiziellen Angaben 287 Zivilisten und zahlreiche Soldaten ums Leben.

Als Konsequenz stellte Deng Xiaoping apodiktisch klar, was bis heute für alle seine Nachfolger gilt: „Wir können nicht einfach die bürgerliche Demokratie kopieren. Das würde das Ende der Führung durch die Partei bedeuten, und dann wäre da nichts mehr, was unser Ein-Milliarden-Volk eint.“ Deng, der Schöpfer des modernen China, starb am 19. Februar 1997 im Alter von 93 Jahren. Im November 1989 hatte er sein letztes Amt niedergelegt, doch obwohl er nie Partei- oder Staatschef war, hielt er bis zu seinem Tod die Fäden der Macht in den Händen.






Peter Kuntze, ehemaliger Redakteur der „Süddeutschen Zeitung“, ist Autor des Buches „Chinas konservative Revolution oder Die Neuordnung der Welt“ (Schnellroda, 2014).