© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/17 / 24. Februar 2017

Eine „weltfremde Aktion“ der Richter
Belgien: Im Visumsstreit um eine syrische Familie fordert ein Gericht deren Aufnahme, doch Migrationsminister Francken hält dagegen
Mina Buts


Belgiens Staatssekretär für Migration und Asyl, Theo Francken (N-VA), hat seit Monaten Ärger mit der Justiz: Vor ein paar Wochen versuchte ein Gerichtsvollzieher sogar, etliche tausend Euro Zwangsgeld in seinem Büro einzutreiben. Bezahlt hat Francken die Summe, die sich täglich um weitere 4.000 Euro erhöht, bislang nicht, stattdessen höhnte er in einem Video, in welchem er in einem komplett leergeräumten Büro auf dem Boden sitzt und das er auf Facebook postete, er könne ja im Zweifelsfall immer noch Asyl bei seinem Freund, dem belgischen Innenminister Jan Jambon (N-VA) erhalten.


Hintergrund des Streites ist die Weigerung Franckens, einer christlichen syrischen Familie aus Aleppo ein Visum in der belgischen Botschaft in Beirut zu erteilen, damit sie nach Belgien einreisen und dort politisches Asyl beantragen kann. Eine befreundete wohlhabende Familie aus Wallonien würde alle Folgekosten übernehmen, so die Ankündigung. Und nur durch die Einreisegenehmigung nach Belgien könne eine gefährliche oder gar illegale Flucht der Familie verhindert werden.


„Wenn wir das zulassen, stürzt das ganze System ein“


Francken hingegen beharrt auf dem Standpunkt, Asyl könne nur in dem Land, in dem man sich gerade befinde, beantragt werden und weigert sich standhaft, von seiner Sichtweise abzurücken. Er befürchtet nicht zu Unrecht, daß ein Präzedenzfall geschaffen werden könne, der Menschen auf der ganzen Welt Tür und Tor nach Europa öffnen würde: „Wenn wir das zulassen, stürzt das ganze System ein“, so Francken.


Bereits Ende Oktober hat ein belgisches Gericht, welches die syrische Familie angerufen hatte, gegen Androhung eines Zwangsgelds geurteilt, ein „humanitäres Visum“ müsse in diesem Fall erteilt werden. Vertreten wird die Familie von einer Juristin,  die dem linksliberalen „Progress Lawyers Network“ angehört, das sich rühmt, „Widerstand in und außerhalb des Gerichts“ zu leisten. Im Berufungsverfahren, von Staatssekretär Francken selbst angestrengt, wurde der Urteilsspruch bestätigt, daher landete die Angelegenheit jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH).


In einer vorab veröffentlichsten Stellungnahme erklärte einer der Generalanwälte des EuGH, der als sehr einflußreich geltende Italiener Paolo Mengozzi, die Mitgliedstaaten der EU seien verpflichtet, Visa auszustellen, die die Einreise und die anschließende Asylantragstellung in einem Land der EU ermöglichten, wenn „schwerwiegende Gründe bestehen anzunehmen, daß  durch die Weigerung Personen, die internationalen Schutz suchen, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgeliefert werden“. Belgien habe keinen Grund gehabt anzunehmen, daß Artikel 4 der Grundrechtecharta der EU nicht erfüllt werden müsse. Jeder Mitgliedstaat der EU sei verpflichtet, ein solches Visum auszustellen, mit dem die Einreise in jedes beliebige Land der EU möglich sei, so Mengozzi.


Zwar hat das Gutachten selbst keine bindende Wirkung, doch Anfang März wird das Gericht eine Entscheidung treffen. Wegen der herausragenden Bedeutung der Angelegenheit werden ausnahmsweise fünfzehn Richter gemeinsam das Urteil fällen. Francken hält dagegen, ihm sei es gelungen, dreizehn weitere Länder und sogar die EU-Kommission hinter seinen Standpunkt zu scharen.


Der Visumsstreit treibt die Regierung seit Monaten um. Die Richter der bislang gefällten Urteile wurden von der nationalkonservativen N-VA als „weltfremd“ bezeichnet. Bart de Wever, Vorsitzender der N-VA, rekapitulierte, daß der syrische Antragsteller sich so bedroht nicht fühlen könne, da er seit der Beantragung des Visums nach Indien, in die Arabischen Emirate und in den Libanon gereist, jedesmal aber Frau und Kinder in Aleppo zurückgelassen habe. Er selbst halte die Angelegenheit für eine „politische Aktion von Richtern“. Auch den Aufruf seiner Partei „Richter müssen die Gesetze streng einhalten. Und nicht unsere Grenzen öffnen“ unterstützte er, indem er tweetete: „Ich unterstütze Theo.“ Auch Regierungschef Louis Michel von den wallonischen Christdemokraten unterstützt Francken.


Dieser gibt sich weiter kämpferisch. Er werde kein Visum erteilen und die Kontrolle über die Grenzen seines Landes nicht aus der Hand geben. „Niemand kann ein Visum erzwingen“, so Francken.

Humanitäre Visaerteilung an den deutschen Botschaften

In Deutschland gilt nach Angaben des Auswärtigen Amtes (AA) der Grundsatz des territorialen Asyls. Demnach kann Asylsuchenden nur Schutz gewährt werden, wenn sie sich bereits auf deutschem Staatsgebiet beziehungsweise an der deutschen Grenze befinden (vgl. §§ 13 und 18 I Asylgesetz). Asylersuchen sind grundsätzlich bereits vor Ort (ohne Beteiligung der Zentrale) unter Berufung auf das Territorialprinzip abzulehnen. Lediglich in besonderen Ausnahmefällen („singuläre Einzelschicksale“), so das Visumhandbuch des AA, komme auf Grundlage des Paragraphen 22 AufenthG die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis in Betracht. Wenn es Anhaltspunkte für einen humanitären singulären Einzelfall gibt und keine andere Grundlage für die Erteilung eines Visums in Betracht kommt, muß die Vertretung prüfen, ob eine Aufnahme in Betracht kommt und – möglichst vor Entgegennahme eines Visumantrages –  unverzüglich einen Bericht an das zuständige Länderreferat im AA senden. Zur Ermittlung des Sachverhalts sollte die Vertretung alle verfügbaren Informationsquellen nutzen, soweit die Dringlichkeit des Falles dies zuläßt. Staatliche Stellen des Gastlandes dürfen auf keinen Fall beteiligt werden. Zentrale Voraussetzung für eine Aufnahme aus dringenden humanitären Gründen ist eine besondere Notsituation. Folgende Gesichtspunkte sind unter anderem für die Entscheidungsfindung von Bedeutung:

- erhebliche und unausweichliche Gefahr für Leib und Leben


- enger Bezug zu Deutschland (frühere Aufenthalte, Familienangehörige u. ä.)


- Kontakte in Deutschland zu Personen/Organisationen, die ggf. bereit wären, Kosten für Aufenthalt/Transport zu übernehmen


- voraussichtliche Kosten eines Aufenthalts in Deutschland


Nicht zu berücksichtigen sind grundsätzlich Schutzersuchende,


- die schon in einem anderen Staat Zuflucht gefunden haben,


- deren Verfolgung darauf beruht, daß sie selbst Gewalt angewendet haben (Art. 1 F Genfer Flüchtlingskonvention)


Die Erteilung eines Visums nach § 22 S. 1 AufenthG obliegt letztlich dem Auswärtigen Amt, das auch die Bewertung von „dringenden humanitären bzw. völkerrechtlichen Gründen“ vornimmt. Geht es um die „Wahrung politischer Interessen“ (§ 22 S. 2 AufenthG) entscheidet das Bundesinnenministerium über die Aufnahme. Im Jahr 2015 erteilte Deutschland nach Paragraph 22 AufenthG 1.165 Aufenthaltserlaubnisse. Darunter befanden sich 994 Personen (2013: 58 Personen) aus Afghanistan und 86 (2013: 58) aus Syrien. Laut der Botschaft in Kabul können Visa ausschließlich nach Terminbuchung über das Onlinesystem der Botschaft beantragt werden.

Foto: Theo Francken / EuGH-Generalstaatsanwalt P. Mengozzi (l.): Der Flame fürchtet, daß sich die Tore nach Europa weiter öffnen werden