© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 09/17 / 24. Februar 2017

Die Revolution kam beinahe unerwartet
Vor 100 Jahren erschütterte die Februarrevolution das Machtgefüge im Russischen Reich / Der Zar wurde gestürzt, und Lenin war überrascht
Jürgen W. Schmidt


Noch zu Lebzeiten Lenins begannen die Bolschewiki an der Legende zu stricken, die russische Revolution 1917 sei das Produkt langjähriger, planmäßiger Vorbereitung unter der Führung ihres genialen Chefstrategen Wladimir Iljitsch Lenin gewesen. Man begann in den nächsten Jahrzehnten sogar von einer „Leninschen Revolutionstheorie“ zu fabulieren, welche der Vordenker des Weltproletariats ausgearbeitet habe. Demgemäß komme es immer dann zur Revolution, wenn „die unterdrückten Massen nicht mehr so weiterleben wollen wie bisher“, die politisch herrschende Klasse aber keine neuen politischen Rezepte anzubieten habe und ebenso stur wie einfallslos auf einem „Weiter so“ beharre. Ob aktuelle Machthaber diesen Umstand aus ihrem vormaligen Marxismus-Leninimus-Pflichtstudium verinnerlicht haben, ist unbekannt. Ob im Februar 1917 in Rußland aber eine typische Revolution im Sinne der Le-ninschen Revolutionslehre stattfand, darüber gingen schon immer die Meinungen auseinander.


Der seltsame Verlauf jener Revolution des Jahres 1917 resultierte nämlich aus der widersprüchlichen politischen und wirtschaftlichen Entwicklung Rußlands im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert.  Einerseits war das zaristische Rußland zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der industriellen Entwicklung weit hinter den Staaten West- und Zentraleuropas zurückgeblieben. Andererseits hatte die industrielle Entwicklung in bestimmten Regionen (Hauptstadt Sankt Petersburg, Gebiet um Moskau, im baltischen Riga) beträchtliche Fortschritte gemacht. Hier entstanden große Industriebetriebe, welche hunderttausenden von Industriearbeitern Beschäftigung gaben, wobei deren soziale Lebensbedingungen deutlich unter denen von Industriearbeitern entwickelter Nationen wie etwa Deutschland lagen.


Die sich herausbildende Klasse der russischen Industriekapitalisten sah sich ähnlich wie das schon länger existente Handelskapital vor die Frage gestellt, sich entweder im Interesse der Niederhaltung der unteren Volksschichten vorbehaltlos hinter das zaristische Regime zu stellen oder aber sich in Konflikt mit diesem zu bringen, indem man bürgerlich-liberale Freiheiten (Verfassung, Parlament, freie Presse) verlangte.


Zudem war mit einem Anteil von knapp 70 Prozent der Bevölkerung nicht etwa das Proletariat, sondern die Bauernschaft in Rußland die zahlenmäßig stärkste Klasse, welcher ein Arbeiteranteil von nur 14 Prozent der Bevölkerung gegenüberstand. Den Rest machten der Adel, das Bürgertum und die in Rußland relativ starke Geistlichkeit aus.


Aufständische siegten nach Seitenwechsel der Kosaken


Die Bauernschaft war allerdings nicht homogen strukturiert. Neben Großbauern (Kulaken) und Mittelbauern gab es eine zahlenmäßig starke Kleinbauernschaft, welche an Landmangel litt. Der größte soziale Widerspruch bestand im Zarenreich deshalb nicht, wie von Lenin und den Bolschewiki propagiert, im Gegensatz von Kapitalist und Proletarier, sondern im Landmangel der Kleinbauern. Folglich war bereits die russische Revolution von 1905/07 eine unaufhörliche Welle bäuerlicher Revolten, während es dem Zarismus gelang, die Proletarierunruhen in den Großstädten relativ schnell niederzuschlagen.


Einsichtige Staatsmänner, wie etwa der 1911 ermordete Ministerpräsident Pjotr Stolypin, sahen deshalb vor 1914 in der Lösung der Agrarfrage den einzigen Weg zur Entschärfung des sozialen Konfliktpotentials in Rußland. Als Rußland 1914 in den Ersten Weltkrieg eintrat, waren die wesentlichen inneren Konflikte aber nur gedämpft, doch keineswegs gelöst worden. In den immer hektischer agierenden politischen Führungsschichten glaubte man indessen, durch Beteiligung an einem Krieg die politische Unruhe in der eigenen Bevölkerung auf einen äußeren Gegner ableiten zu können.


Doch der Krieg verlief nicht siegreich. Beträchtliche Gebiete des Russichen Reiches im Westen wurden feindlich besetzt und das Transportwesen sowie die Landwirtschaft zerrütteten zusehends. Vier Jahre ertrug das geduldige Volk diese Zustände, dann entlud sich der Unmut aus eigentlich nichtigen Gründen. Mitte Februar 1917 durchfluteten Gerüchte die 1914 in „Petrograd“ umbenannte russische Hauptstadt. Es hieß, man wolle die Zuteilungen beim Hauptnahrungsmittel Brot auf ganze 400 Gramm pro Kopf und Tag kürzen. Obwohl der Chef des Petrograder Militärbezirks sogleich die Bevölkerung in Proklamationen beschwor, man habe ausreichend Mehl in den Lebensmittellagern vorrätig und auch die Zufuhr laufe unaufhörlich, wurden sogleich in Hamsterkäufen die Brotläden leergekauft, und es entwickelte sich in der Stadt eine zunehmend aggressive Stimmung.


Ab dem 18. Februar 1917 bildeten sich vor den ungenügend gefüllten Lebensmittelläden Zusammenrottungen, welche die Polizei kaum noch zu zerstreuen vermochte, weshalb man auf das Heer, vor allem auf die bei der Bevölkerung gefürchteten Kosakeneinheiten zurückgriff. Spontan entwickelten sich in den nächsten Tagen in Petrograd vielfältige Streiks und Demonstrationen, die nur eine Parole kannten, nämlich „Brot“. Doch sichtlich lustlos gingen die Soldaten gegen das Volk vor, die städtische Polizei machte einen eingeschüchterten Eindruck und agierte lange nicht so brutal, wie ansonsten gewohnt.


Die Geheimpolizei „Ochrana“, welche unter den Proletariern massenhaft Spitzel besaß, meldete hingegen unermüdlich das Anwachsen der Unruhen in der Stadt. Am 23. Februar 1917 streikte man schon in mehr als 50 Petersburger Großbetrieben wegen Brotmangels. Der Ochrana-Agent „Limonin“, es handelte sich um den Petersburger Bolschewiki Wassil Schurkanow, der zugleich Duma-Mitglied war, meldete in diesem Zusammenhang wahrheitsgetreu, daß die revolutionären Unruhen völlig spontan und allein nur wegen der drohenden Lebensmittelkrise ausgebrochen seien.


Wegen dieser spontanen Massenstreiks datierten die Bolschewiki später den Beginn der Revolution auf den 23. Februar 1917 (nach gregorianischem Kalender der 8. März), obwohl es zu den ersten blutigen Ausschreitungen erst am 25. Februar kam. Als an diesem Tage wieder eine spontane Kundgebung stattfand, und zwar ausgerechnet am Ende des Prunkboulevards Newski-Prospekt unmittelbar vor dem städtischen Hauptbahnhof, wollte man seitens der städtischen Gewalt Stärke und Entschlossenheit demonstrieren.


Polizeieinheiten gingen gegen die Teilnehmer der Kundgebung vor, doch ausgerechnet die bislang treuen Kosaken wechselten die Seite, eröffneten das Feuer und töteten den leitenden Polizeioffizier. Spontan entwickelten sich nun Straßenkämpfe in der Stadt. Polizisten wurden grausam gelyncht und die knapp 200.000 Mann kriegsmüder Reservetruppen in und um Petrograd gingen größtenteils zum protestierenden Volk über oder erklärten sich für neutral.
Am 26. Februar 1917 löste Duma-Präsident Michail Rodsjanko zwar auf Anweisung des Zaren die Duma, das russische Parlament, auf und gründete am 27. Februar ein außerparlamentarisches „Provisorisches Komitee zur Wiederherstellung der öffentlichen Ordnung“, welches die ausgebrochenen Unruhen, die sich bislang nur auf die Hauptstadt Petrograd beschränkten, bekämpfen sollte.


Nun zeigte sich, daß angesichts des immer noch laufenden Krieges gegen die Mittelmächte die zuverlässigen Truppen vor Ort für die Niederwerfung der Unruhen nicht ausreichten, zusätzliche Truppen aber nicht schnell genug herantransportiert werden konnten.


Angesichts des Verfalls jeglicher Ordnung in der Stadt bildeten sich jetzt spontan Arbeiter- und Soldatenräte, welche eigenständig und oft auf anarchistische Art alle Probleme vor Ort lösen wollten. Zumindest gelang es ihnen rasch, in Petrograd alle Bahnhöfe, das Telefonamt, die militärisch wichtigen Orte der Peter-Pauls-Festung und der Admiralität zu besetzen und die Zarenresidenz in Zarskoje Selo, südlich Sankt Petersburgs, abzuriegeln. Zar Nikolaus II. war derweil auf dem Weg zum Generalstab der russischen Nordarmee in Pleskau, wo ihm General Nikolai Russki in Anbetracht der Lage in Petrograd den Rat gab, unverzüglich abzudanken. Die Aussicht, mit ihren revolutionsfreundlichen Soldaten den Aufstand niederzuschlagen, wollten und konnten Nikolaus’ Generale ihrem Oberbefehlshaber nicht geben.


Der Zar wollte nun mit einem späten Zugeständnis wieder Herr der Lage werden, indem er ein dem Parlament verantwortliches Ministerkabinett einberief. Doch Rodsjanko, im ständigen Kontakt mit dem Generalstab, lehnte ab und forderte die sofortige Abdankung des Zaren.


Innerhalb von knapp zwei Wochen wandelte sich nun Rußlands Gesicht völlig. Der Abdankung Nikolaus II. am 2. März zugunsten seines Bruders Michail folgte tags darauf dessen Thronverzicht auf Druck einer Delegation der Provisorischen Regierung unter Fürst Georgi Lwow, zu der auch der kommissarischen Justizminister Alexander Kerenski gehörte, der ab Mai 1917 in die erste Reihe der bürgerlichen Regierung unter Lwow aufsteigen sollte. Der Petrograder Arbeiter- und Soldatenrat mit einem Exekutivkomitee, der zu dieser Zeit von sozialistischen Menschewiki gemeinsam mit den Sozialrevolutionären dominiert wurde, unterstützte zunächst die neue Regierung.
Die radikalsozialistischen Bolschewiki wurden von dieser spontanen revolutionären Welle genauso überrascht wie die zaristische Regierung. Lenin lebte damals in der Schweiz. Obwohl er seit vielen Jahren die Revolution in Rußland propagierte, hielt er im Februar 1917 deren Ausbruch für derart unwahrscheinlich, daß er sich im Januar 1917 nur die Aufgabe stellte, bis Mai 1917 einen neuen Sammelband revolutionärer Aufsätze zur Publikation vorzubereiten. Über die Petersburger Unruhen bekam man in der Schweiz erst relativ spät Kenntnis, nämlich am 2. März 1917 (julianischer Zeit).


Wie Lenins Gattin Nadeschda Krupskaja berichtet, erhielt an diesem Tage Lenin erste Informationen über die neun Tage zuvor ausgebrochene russische  Revolution: „Eines Tages, Iljitsch wollte gerade in die Bibliothek und ich räumte des Geschirr auf, kam Bronskij hereingestürzt: ‘Ihr wißt wohl nichts. In Rußland ist Revolution’ und er berichtete von soeben eingelangten Telegrammen.“



Fotos: Demonstranten vor dem Bolschoi-Theater in Moskau, 26. Februar 1917: Gerüchte über Lebensmittelverknappung waren Ursache der Streiks, Zar Nikolaus II. und seine Familie unter Hausarrest, Zarskoje Selo 1917: Zugeständnisse an die Duma kamen viel zu spät, Alexander Kerenski als Justizminister im März 1917: Das sozialdemokratische Mitglied der bürgerlichen Regierung wurde im Juli 1917 russischer Ministerpräsident