© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

„Ohne modischen Schnickschnack“
Seine „Deutsche Geschichte für junge Leser“ wurde 2015 zum Überraschungserfolg. Nun beleuchtet der Historiker Karlheinz Weißmann mit „Martin Luther für junge Leser“ den großen Reformator in patriotischem Licht
Moritz Schwarz

Herr Dr. Weißmann, zum Reformationsjubiläum erscheint eine Flut von Büchern. Warum noch ein Band von Ihnen über den Reformator und die Reformation?

Karlheinz Weißmann: Nun, ich denke, daß meine Perspektive auf Luther und die Reformation eine eher ungewöhnliche ist.

Inwiefern?

Weißmann: Insofern, als sie ohne den modischen Schnickschnack auskommt, ohne bemühte Aktualisierungen, ohne hypermoralische Verdammung, ohne Zensur seiner Anschauungen, auch derjenigen, die uns heute irritieren. Es ist eine Perspektive, die nicht mehr die übliche ist, die aber in der Tradition der Lutherdeutung steht, die in ihm immer beides sah: den großen Beter und den großen Täter, einen Glaubens- und einen Nationalhelden. Das war noch Konsens beim letzten Lutherjubiläum aus Anlaß seines fünfhundertsten Geburtstags, 1983. Da sprach DDR-Staatschef Honecker vom „großen Sohn unseres Volkes“, und die Würdigung durch Bundespräsident Karl Carstens oder den EKD-Ratsvorsitzenden Eduard Lohse fiel entsprechend aus. 

Davon ist heute keine Rede mehr.

Weißmann: Eben! Schauen Sie sich nur an, wie peinlich man darauf achtet, nicht vom „Lutherjubiläum“, sondern nur vom „Reformationsjubiläum“ zu reden. Da macht sich das „Knirpstum“ geltend, von dem der Historiker Jacob Burckhardt sprach, das Ressentiment, das gar keine „Größe“ anerkennen will, sondern alles seinen eigenen kleinen Maßstäben zurechtmacht. Bezeichnenderweise wird in den Werbemitteln der Evangelischen Kirche peinlich darauf geachtet, daß bloß kein wirklicher Hinweis auf Luthers Lehre zur Geltung kommt. Bestenfalls gibt es ein paar wolkige Bemerkungen zum Thema „Freiheit“. Natürlich wird es zum Kirchentag im Mai und zum Reformationstag am 31. Oktober einen riesigen Auftrieb an Prominenz geben, natürlich finden die großen Ausstellungen statt, die sich auf Millionen Besucher vorbereiten, natürlich wird sich auch die politische Führungsspitze irgendwie vernehmen lassen. Aber das alles doch möglichst unverbindlich und entsprechend dem Vielfalts-Einerlei.

In ihrem Buch gehen Sie noch einen Schritt weiter und nennen Luther schon im Untertitel „Prophet der Deutschen“. Christlicher Prophet oder nationaler Prophet?

Weißmann: Prophet ist nach biblischem Verständnis der, der Gottes Botschaft ausrichtet. Das hat Luther getan. Das Amt des Propheten ist nicht leicht, man drängt sich nicht dazu, es bietet keine Vorteile. Jesaja ergriff Furcht und Zittern angesichts seiner Berufung, Amos wurde hinter seiner Herde „weggerissen“, wie das Alte Testament erzählt, und er grollte seinem Herrn deswegen, und Jona wollte sogar übers Meer fliehen, bevor ihn der Walfisch verschluckte. Auch Luther kannte Zögern, Sorge und Zweifel angesichts der Aufgabe, die vor ihm lag, und wenigstens im nachhinein erfaßte ihn Schrecken angesichts der Kühnheit, zu der Gott ihn getrieben hatte. Aber er sah sich beauftragt, das Christentum zu erneuern, es auf seine eigentliche – evangelische – Grundlage zurückzuführen. Das war stärker als alle Furcht. Und er war überzeugt, daß das mächtigste Mittel, um das große Ziel zu erreichen, das „Wort“ ist. Der Prophet ist in besonderer Weise gefordert, das „Wort“ zu verkünden. Dieses „Wort“ ist immer ein konkretes, es muß in einer bestimmten Situation und also in einer bestimmten Sprache zur Geltung kommen. Natürlich wollte Luther die ganze Kirche reformiert sehen, aber er selbst wußte sich zu seinen „lieben Deutschen“ gesandt. Insofern war er der „Prophet der Deutschen“. Mit der Nation hatte das notwendigerweise zu tun, weil sie der gegebene Adressat seiner Botschaft war.  Aber gegeben heißt natürlich auch, daß die Nation längst da war, zur Zeit des Thesenanschlags seit mindestens fünfhundert Jahren. Die großen europäischen Nationen sind alle im Mittelalter geboren, selbstverständlich auch die deutsche.

Luther war ein mittelalterlicher Mensch und von einem fundamentalistischen Drang zu Gott getrieben. Kaum etwas ist der heutigen jungen Generation jedoch ferner. Wie dieser das heute erklären?

Weißmann: Es gibt gar keine Frömmigkeit, die den Namen verdient, ohne einen gewissen „fundamentalistischen“ Zug, ohne das Ernstnehmen der Grundlagen, also der Fundamente, eines Glaubens. Das mag dem Intellektuellen zuwider sein, nicht ins liberale Selbstverständnis passen oder irgendwie unmodern und nicht angesagt erscheinen. Aber das ist nicht von Belang. Luther ist in dieser Hinsicht sowenig zeitgemäß wie Jesus von Nazareth, Paulus, Augustinus, Meister Eckhart, Hildegard von Bingen, Paul Gerhardt, Johann Sebastian Bach, Johann Hinrich Wichern, Sören Kierkegaard oder Clemens Graf Galen, Maximilian Kolbe, Dietrich Bonhoeffer und Oskar Brüsewitz. Also all diejenigen, für die die Sache mit Gott eine ernste war. Das ist dem heutigen Menschen, zumal dem jungen fremd – da haben Sie recht. Aber darin liegt auch eine Möglichkeit, eine pädagogische, wenn Sie so wollen. Man muß die Fremdheit zur Geltung bringen, muß deutlich machen, daß es weniger darum geht, sie wegzudeuten, annehmbar zu machen, unseren Maßstäben zu unterwerfen. Ins Zentrum gehört nicht die Frage, wie Luther dasteht, wenn wir unsere Maßstäbe anlegen. Im Zentrum steht die Frage, wie wir dastehen, wenn er seine Maßstäbe an uns anlegt. Um meine Antwort zu verraten: Wir stehen jämmerlich da.

Und diese Fremdheit soll das Thema für Jugendliche attraktiv machen?

Weißmann: Es ist ein Irrtum, anzunehmen, daß die Leute immer zu hören bekommen wollen, was sie zu hören bekommen wollen. Aber im Ernst: Wenn Sie Kindern oder Jugendlichen zeigen, welcher Unerschrockenheit und welches Gottvertrauens es bedurfte, um gegen Kaiser und Papst, gegen die große Mehrheit, aufzustehen, dann haben Sie etwas Entscheidendes erreicht, dann wird das niemanden unbeeindruckt lassen.

Niemanden?

Weißmann: Niemanden, der nicht stumpf ist. Aber die Stumpfen stelle ich mir grundsätzlich nicht als Schüler oder Leser vor. Weiter: Wenn Sie einem Heranwachsenden erklären, daß das Christentum in Wirklichkeit nicht langweilig und keine Eiapopeia-Veranstaltung ist, nur was für Ökos mit Birkenstocksandalen oder Leute mit Helfersyndrom, dann werden Sie ihn mindestens dazu bringen, einmal über die Tiefe von Luthers Verständnis der Geschöpflichkeit  oder des Glaubens – „Woran Du nun Dein Herze hängst, das ist eigentlich Dein Gott!“ – nachzudenken oder sich vor Augen zu halten, wie klug die Zwei-Reiche-Lehre war, vor allem verglichen mit diesem ganzen Frieden-schaffen-ohne-Waffen-Gerede der kirchlichen Linken. Aber auf dem Feld gilt natürlich noch stärker als auf anderen, daß das immer nur Anregungen sind, mehr steht nicht in unserer Macht – regen muß sich der Betreffende schon selbst.

Bekommen junge Leute in der Kirche heute denn solche Anregungen?

Weißmann: Kaum. Die evangelische Kirche hat ihr lutherisches Erbe längst aufgegeben. Wer genau hinsieht erkennt, daß sie sich selbst jetzt nur verschämt dazu bekennt.

Wie ist das zu erklären?

Weißmann: Das hat vor allem mit ihrer Tendenz zu tun, die biblischen Grundlagen geringzuachten, den Menschen nach dem Mund zu reden und das Christentum entweder als Heimat für Weltverbesserer mit gehobenem Anspruch oder als Wellness-Religion für aufgeklärte Europäer zu verkaufen. Luther wollte ja gar nicht, daß man „seine“ Kirche „lutherisch“ nennt. Aber wie auch immer: Er würde diese Kirche wohl kaum als „seine“ Kirche betrachten, ganz gleich wie sie heißt. Und umgekehrt würden die EKD-Oberen gegen ihn ein Lehrzuchtverfahren einleiten, falls er zurückkehrte, den Mund aufmachte und seine Anschauungen kundtäte.

Was wären das für Anschauungen?

Weißmann: Daß Gott nicht der „liebe Gott“ ist und der Mensch kein unproblematisches Wesen, sondern Gotteskind und Sünder gleichermaßen, daß er deshalb auf Gottes Gnade angewiesen ist und der Lieblingssatz aller Pastoren – „Gott nimmt dich an wie du bist“ – der biblischen Lehre ganz und gar widerspricht. Die Bibel fordert: „Kehre um, tu Buße“ – Luther sagt in den 95 Thesen, daß eigentlich das ganze Leben des Christen Buße sein sollte: Laß Dich durch Gott verändern und werde dadurch der, den er haben will. 

Und darum geht es auch in Ihrem Buch?

Weißmann: Ja, wir haben es uns nicht leichtgemacht: Luther nicht einfach als Wutbürger, Gewissensheld, Freiheitskämpfer, auch nicht einfach als großen Deutschen gezeichnet. Das alles war er, aber das genügt nicht. Seine Größe – sein Genie, wenn Sie so wollen – liegt in dem, was er in seiner Lehre zur Geltung gebracht hat.

Man merkt, daß Sie zu Luthers Bewunderern gehören. Heißt das, daß Ihr Buch eigentlich nur ein Buch für Protestanten ist?

Weißmann: Bevor ich darauf antworte, zwei Bemerkungen: Die erste betrifft die Reaktionen auf mein Buch „Deutsche Geschichte für junge Leser“, das 2015 erschienen ist. Es gab, zu unserer Überraschung, auf kein Kapitel so heftige negative Reaktionen wie auf das zur Reformation. Verständlich fand ich das nicht, und auch nicht gerechtfertigt. Es ging nicht darum, Luther einen Heiligenschein zu verpassen. Darum geht es auch jetzt nicht. Aber diese Ausbrüche ultramontanen Hasses auf Luther finde ich ebenso verstörend wie ungerechtfertigt. Die zweite Bemerkung bezieht sich auf den Begriff „Protestanten“: Ich habe diesen immer als etwas unpassend empfunden. Luther verkörpert zwar ohne Zweifel den Protest gegen den Verfall der Kirche, gegen „Rom“, dann auch gegen die Herrschaft des Habsburgers Karl und die „viehisch spanisch servitut“. Und man kann diesen Protest in eine Geschichte des deutschen Widerstands einordnen, die von Arminius bis zum 17. Juni 1953 reicht. Aber deshalb darf man doch nicht vergessen, daß sich die Notwendigkeit zu protestieren für Luther aus bestimmten historischen Umständen ergab. Protest als solcher ist nicht Wesen dessen, was man besser „evangelisch“ nennt. Das ist im Kern der Wunsch, das, was früher die „Heilandslehre“ hieß, also das, was Jesus wirklich meinte, wiederherzustellen. Dieses Bestreben muß doch eigentlich Ziel aller Christen sein. Was übrigens von gläubigen Katholiken auch immer wieder zugegeben worden ist. Nehmen Sie Georges Bernanos, der in seinem Roman „Tagebuch eines Landpfarrers“ ausdrücklich Luthers Vorstellung des gnädigen Gottes anerkannte. Nehmen sie einen so entschieden vorkonziliaren Mann wie Erik von Kuehnelt-Leddihn, der Luther als Seelenverwandten betrachtete und „Bruder Martin“ nannte, oder den Pater Peter Manns, der ein sehr kluges Buch über Luther geschrieben hat, in dem er ihm den Ehrentitel Abrahams „Vater im Glauben“ verlieh.

Also ein ökumenischer Standpunkt?

Weißmann: Ökumene ist auch so ein verbrauchtes Wort. Ich bin für „evangelische Katholizität“ und halte mich damit für gut lutherisch. 

Zum Schluß eine persönliche Frage: Wie lebt es sich als Lutheraner in der Gegenwart?

Weißmann: Man ist einsam im geistlichen Sinn.

Was heißt das?

Weißmann: Der letzte Gottesdienst, dem ich mit innerer Anteilnahme gefolgt bin, war ein anglikanischer. Der letzte evangelische Gottesdienst, in dem ich – ohne innere Anteilnahme – saß, war ein Konfirmationsgottesdienst. Ich ahnte, was auf mich zukommen würde, der Konfirmand auch. Da er um meine Leidenschaften weiß, wurde abgemacht, daß ich während des Gottesdienstes keinen Skandal auslösen würde. Also habe ich mich darauf beschränkt, „da capo!“ zu rufen, als der zottelige junge Mann im Altarraum mit seiner Gitarrendarbietung zu irgendeinem aktuellen Hit ans Ende kam.

Keine Hoffnung?

Weißmann: Was diese Dinge angeht, stehen wir allzumal in Gottes Hand. Luther meinte, es gebe Zeiten, in denen müsse Gott einen „Wundermann“ schicken, sonst sei nichts zu machen. Auf einen solchen hoffe ich.

Die Hoffnung stirbt zuletzt?

Weißmann: Eher mit Paulus: „Es bleiben aber Glaube, Liebe, Hoffnung.“

Schließlich: Ist „Martin Luther für junge Leser“ nur ein Buch für junge Leute?

Weißmann: Das mit dem „für junge Leser“ hatten wir ja auch für die „Deutsche Geschichte“ verwendet, ohne daß sich deshalb Pensionäre von der Lektüre abhalten ließen. Darauf hoffen wir natürlich auch in diesem Fall, daß jeder, der sich interessiert, dazu greift. Im übrigen hörte ich, daß ein Pastor schon Exemplare vorbestellt hat – eins davon für sich selbst.






Dr. Karlheinz Weißmann, der Publizist und Historiker veröffentlichte bereits zahlreiche Bücher, darunter „Rückruf in die Geschichte“ im Ullstein-Verlag und „Der Weg in den Abgrund. Deutschland unter Hitler“, das 1995 als neunter Band in der populären Propyläen-Reihe „Geschichte Deutschlands“ erschien. Geboren wurde Weißmann 1959 im niedersächsischen Northeim. Er studierte Geschichte und evangelische Theologie und unterrichtet als Studienrat an einem Gymnasium seiner Vaterstadt. Seit 1988 schreibt er auch für die JUNGE FREIHEIT. Zuletzt erschienen aus seiner Feder die Bände: „Deutsche Geschichte für junge Leser“(2015), „Rubikon. Deutschland vor der Entscheidung“ (2016) und am 1. März  „Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen“.

Foto: Autor Weißmann: „Ins Zentrum gehört nicht die Frage, wie Martin Luther dasteht, wenn wir unsere Maßstäbe anlegen, sondern wie wir dastehen, wenn er seine Maßstäbe an uns anlegt“

 

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