© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Prophet der Deutschen
Martin Luther für junge Leser: Ein Auszug aus dem in der JF-Edition erschienenen Buch von Karlheinz Weißmann
Karlheinz Weißmann

Die außerordentliche Bedeutung, die Luthers Bibelübersetzung für die Sprache und damit für die Kultur der Deutschen gewonnen hat, ist der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die meisten einigen können, wenn es um Luthers Größe geht. Wesentlich schwieriger wird es natürlich, wenn man die Frage beantworten soll, ob Luther in Glaubensfragen im Recht oder Unrecht war. Das kann auch kaum anders sein bei einem Mann, der schon zu Lebzeiten von manchem wie ein Heiliger verehrt wurde und anderen als Sohn des Satans galt, vom Gottseibeiuns mit einer Hure gezeugt.

Heute hat diese Auseinandersetzung viel von ihrer Schärfe verloren, gibt es bei denjenigen, die sich nach wie vor auf Luther berufen – den »Lutherischen« oder »Lutheranern« – eine Bereitschaft, seine Fehler als Fehler zuzugeben, und auf der katholischen Gegenseite eine gewisse Bereitschaft, sein ehrliches Wollen anzuerkennen. In Rom hat man unlängst sogar einen Platz nach ihm benannt: die Piazza Martin Lutero. 

Sehr weit zurückgetreten ist allerdings die Vorstellung, die lange für das Gedenken an Luther die wichtigste überhaupt war: die von Luther als Nationalheld. Schon ein in der Reformationszeit entstandenes Bild zeigte ihn als »Hercules Germanicus«. Der lateinische Herkules oder griechische Herakles war der berühmteste Held der Antike, ein Halbgott, fähig, unlösbare Aufgaben zu lösen, unbesiegbare Gegner zu besiegen. Luther, den »germanischen« oder »deutschen Herkules« sieht man, wie er einen seiner Feinde im Griff hat, während er gegen die übrigen mit einer Keule wütet.

Die Darstellung stammt von einem der bedeutendsten Künstler der Zeit – Hans Holbein dem Jüngeren –, der mit Luther sympathisierte und zu einem Zeitpunkt, an dem noch keineswegs klar war, wie Luthers Sache ausgehen würde, deutlich machen wollte, welcher übermenschlichen Kraft es bedurfte, um sich gegen alle zu behaupten, die Luther bekämpften: der Kaiser, der Papst, die Großen der Welt und der Kirche, die Masse der Theologen, alle diejenigen, die etwas zu verlieren hatten, wenn Luthers Ideen sich durchsetzen konnten. Hinter Luther stand dagegen das Volk, die einfachen Leute, die Bauern, die Bürger und viele Adlige. Sie hatten auf jemanden wie ihn gewartet, der ihrem Unbehagen am Zustand des Glaubens und des Landes Ausdruck verlieh, aufstehen und »protestieren« würde – »Protestanten« wird später auch zur Bezeichnung der »Evangelischen«, der Anhänger Luthers.

Für diesen Protest bewunderten sie ihn, für seine Bereitschaft, vorzutreten, seine Stimme zu erheben und den Kampf aufzunehmen, auch wenn das Gefahr für Leib und Leben bedeutete. Und weil dieser Kampf in erster Linie gegen die Kirche zu führen war, die ihren Sitz in Rom hatte, lag es nahe, Luther mit einem anderen Nationalhelden in Verbindung zu bringen, den man gerade wiederentdeckt hatte: Arminius. Er, den der Geschichtsschreiber Tacitus den »Befreier Germaniens« genannt hatte, weil er in der Schlacht am Teutoburger Wald die Legionen des Augustus besiegte, erschien wie ein Vorläufer Luthers und die Geschichte der Deutschen als eine Geschichte ununterbrochener Freiheitskämpfe, in denen sie versuchten, sich gegen ihre eigenen Unterdrücker oder gegen Fremdherrschaft zu behaupten.

Luther selbst bewunderte Arminius und ärgerte sich darüber, dass man nur noch dessen römischen Namen kannte. Wie viele seiner Zeitgenossen war er überzeugt, dass die Germanen ihn »Hermann« genannt hatten, was er mit »Herzog« also Anführer übersetzte. Wenn er sich selbst nicht nur einen »Hartzling« nannte, weil seine Familie aus dem Gebiet des Harzrandes stammte, sondern auch betonte, dass er »Sachse« sei, so mag noch etwas davon anklingen, dass der Stamm der Sachsen auch den der Cherusker in sich aufgenommen hatte.

Man kann gegen ein solches Verständnis manches einwenden – wie gegen jede Deutung der Vergangenheit –, aber es bleibt doch dabei, dass die deutsche Geschichte etwas wie eine »protestantische« Linie hat, die man mit Arminius beginnen lassen kann. Sie würde sich dann über den Kampf Widukinds gegen Karl den Großen und die Reformation und den Aufstieg Preußens bis zur Widerstandsbewegung der NS-Zeit, den Arbeiteraufstand in der DDR am 17. Juni 1953 und die »friedliche Revolution« von 1989 erstrecken.

Damit wäre nicht nur geklärt, dass die oft vertretene Meinung, die Deutschen seien ein Volk von Duckmäusern und parierten nur allzu gern, bestenfalls die halbe Wahrheit ist. Damit wäre auch der merkwürdigen Tatsache wieder Gewicht verschafft, dass die erwähnten Ereignisse ihren Ursprung in Gebieten jenseits der alten Limes-Linie hatten, jener Grenze, die das römisch besetzte Gebiet vom freien Germanien trennte: Das gilt für die Heimat des Arminius, das Cheruskerland, genauso wie für das Sachsen Widukinds, für die mitteldeutschen Gebiete, in denen die Reformation ihren Ausgang nahm, genauso wie für die ostdeutschen, zu denen die preußischen Kernlande gehörten, und es gilt ebenso für das Territorium der ehemaligen DDR.

Das »protestantische« Deutschland ist selbstverständlich nicht das ganze Deutschland. Es gibt auch das andere, das im Süden und im Westen, das in vieler Hinsicht reichere, lieblichere, länger kultivierte, das mit den Nachbarn in engerem Austausch stehende, das ursprünglich römische Germanien. Und unbestreitbar hat es Zeiten der tiefen Spaltung und Feindschaft zwischen dem einen und dem anderen gegeben, zum Unglück der Deutschen.

Aber solche Brüche gehören auch zur Geschichte eines Volkes. Selten sind sie so tief wie in Deutschland, doch andererseits haben sich die Spannungen zwischen den verschiedenen Teilen eines Landes nicht nur als furchtbar, sondern auch als fruchtbar erwiesen. Insofern gehört Luther nicht nur einem Teil der Deutschen, denen im Norden und Osten, den Protestanten, sondern allen, weil er aus ihrer Vergangenheit nicht wegzudenken ist, weil er etwas verkörpert, was nicht nur groß im allgemein-menschlichen Sinne war, sondern im besonderen Sinne deutsch. Man fühlt sich an einen Satz des Koran erinnert, der besagt, dass Gott jedem Volk einen Propheten schickt, der in seiner Sprache spricht. Luther selbst hat das ganz ähnlich gesehen und sich den »Propheten der Deutschen« genannt. (…) 


Als Luther damit anfing, an der Universität über die Bibel zu sprechen, stellte er die üblichen Auffassungen noch nicht in Frage. Er wusste, dass sogar den einfachen Brüdern seines Ordens der Umgang mit der Bibel verboten war, dass erst Staupitz überhaupt dafür gesorgt hatte, dass die Heilige Schrift in größerer Zahl angeschafft wurde. Aber nur ganz allmählich wuchsen seine Zweifel, dass die bisher übliche Vorgehensweise die richtige sei. Er beschäftigte sich immer stärker mit dem, was die Autoren des Alten und – wichtiger – des Neuen Te­staments eigentlich geschrieben hatten. Dabei galt sein besonderes Interesse den Psalmen, also den Liedern des Alten Testaments, und den Briefen des Paulus, weil er je länger, je mehr überzeugt war, dass man hier das »helle Gotteswort« finden könne.

Um die entscheidende Bedeutung der Lehre des Paulus für Luther zu begreifen, musst Du verstehen, dass das Leben des Paulus eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Luthers hatte. Das betraf jedenfalls die Bedeutung des radikalen Bruchs mit eigenen älteren Vorstellungen. Paulus war ursprünglich als gläubiger Jude ein entschiedener Feind der Chri­sten gewesen, die sich auf Jesus als Gottes Sohn beriefen. Für ihn als Juden gab es nur einen Gott, und der konnte keine Söhne haben wie die heidnischen Götter. Auf einer Reise nach Damaskus, wo er die christliche Gemeinde verfolgen wollte, erschien ihm aber Christus und Paulus bekehrte sich zum Christentum.

Und nicht nur das. In der Folgezeit breitete er die neue Lehre aus und gründete zahlreiche Gemeinden im östlichen Mittelmeerraum. Um den Kontakt zu diesen Gemeinden zu halten, schrieb er Briefe, die ins Neue Testament aufgenommen wurden. Anders als in den Evangelien ging es bei Paulus nicht um das Leben Jesu, nicht einmal um dessen Lehre, ihm ging es nur um die Bedeutung, die das Leben, Leiden, Sterben und die Auferstehung für den Christen haben. Und seine Art, nach dieser Bedeutung zu fragen und eine Erklärung anzubieten, schlug Luther in Bann.

Dabei beschäftigte ihn vor allem die Art und Weise, in der Paulus von der »Gerechtigkeit Gottes« sprach. Gemeint ist damit die Gerechtigkeit, man könnte vielleicht sagen: das Ansehen, das der Mensch vor Gott haben sollte. Bis dahin verstand Luther die Formulierung so, wie es die kirchliche Überlieferung wollte: Die Gerechtigkeit vor Gott kann der Mensch nur dadurch erlangen, dass er ein von Sünden freies Leben führt; wenn ihm das nicht gelingt, wird er bestraft nach Maßgabe seiner Verfehlungen. Luther hat einmal ausdrücklich festgehalten: »Ich wurde von Kindheit auf so gewöhnt, dass ich erblassen und erzittern musste, wenn ich den Namen Christus auch nur nennen hörte: denn ich war nicht anders unterrichtet, als dass ich ihn für einen strengen und zornigen Richter hielt.«

Was ihn an dieser Vorstellung je länger, je mehr störte – er sprach später davon, dass er sie »hasste« –, war, dass Gott dem Menschen eine unlösbare Aufgabe stellte, an der er sicher scheitern musste. Darüber konnte weder die Rede von der Gnade Gottes noch die Lehre vom sündenvergebenden Tod Christi am Kreuz hinwegtäuschen. Erst bei sehr aufmerksamem Lesen des Briefes, den Paulus an die Gemeinde in Rom geschickt hatte, wurde Luther klar, dass er den Gedankengang des Paulus falsch verstanden hatte. Die Erkenntnis soll Luther plötzlich gekommen sein, er selbst sprach einmal davon, er sei wie »von einer Axt« getroffen gewesen, als er sich in einem Turm des Augustinerklosters in Wittenberg aufhielt. Man spricht deshalb auch vom »Turm­erlebnis«. Jedenfalls erkannte er, dass Paulus mit der Gerechtigkeit Gottes gar nicht die Gerechtigkeit meinte, die der Mensch durch sein Handeln oder Unterlassen vor Gott erwirbt, sondern dass es darum geht, dass der Mensch von Gott gerecht gemacht wird, ohne jede Leistung, allein dadurch, dass der Mensch an Gott und seinen Sohn Christus glaubt. Kurz und knapp: Der Mensch kann sich noch so sehr bemühen; er wird den hohen Ansprüchen Gottes nicht genügen. Er kann sich seine Stellung vor Gott nicht verdienen. Sie wird ihm geschenkt, dadurch, dass er sich voller Vertrauen Gott und seinem Sohn Christus zuwendet – »allein durch den Glauben«, wie Luther schreibt.

Dieses »allein durch den Glauben« wird für Luther zum Schlüssel für ein völlig neues Verständnis der christlichen Lehre, und es wird ihn dahin bringen, ein zweites Mal alles aufzugeben, was er bisher für richtig gehalten hatte. Er hat seine andere Sicht der Dinge keineswegs verschwiegen. Aber in seinen Vorlesungen ist kaum jemandem aufgefallen, dass er hier Ideen vertrat, die mit denen der Kirche nur schwer in Einklang zu bringen waren.

Zu den wenigen gehörte allerdings einer seiner Kollegen unter den Professoren, ein gebildeter Philosoph und Humanist, der meinte, nicht ohne Sorge: »Dieser Mönch wird eine neue Lehre aufbringen.« Dass das keine Einzelmeinung blieb, hatte mit dem folgenden Streit zu tun, den Luther auslöste. Und da ging es kaum um das, was Gelehrte sonst beschäftigte. Da ging es vielmehr um etwas, das die Menschen, auch und gerade die einfachen, umtrieb, die zu Luther als Priester kamen und bei ihm beichteten. Es ging um die sogenannten Ablassbriefe.

Ohne Zweifel bot es einen prächtigen Anblick, wenn der Wagen des Ablasshändlers auf den Marktplatz fuhr: Ihm selbst ging der Ruf als großer Prediger voraus, den jeder gerne hören wollte, der den Menschen ihre Sünden und allgemeiner ihre Schlechtigkeit um die Ohren schlug, dass keiner unerschüttert blieb. Manchmal begleitete ihn eine ganze Heerschar von Mönchen, manchmal auch ein hoher Geistlicher, prächtig gekleidet, der auf einem reich gezäumten Maultier ritt.

Mitten auf dem Wagen stand ein großes rotes Kreuz, das man in der Kirche errichten würde, links und rechts die roten Fahnen mit den gekreuzten Schlüsseln, dem Wappen des Papstes. Die symbolisierten die Schlüssel des Himmelreiches, über die nur das Oberhaupt der Kirche verfügen konnte. Man glaubte, dass der Papst und nur der Papst hier auf Erden entschied, wer zu Gott kommen würde und wer nicht. Deshalb konnte der Papst und nur der Papst auch etwas anbieten, was sonst nirgends zu bekommen war: eine Art Rundum-sorglos-Paket, den »Ablass«, also den Erlass der Sündenstrafen, wenn der Gläubige die vorgeschriebenen frommen Werke erledigte.

Wir hatten gesehen, wie Luther selbst bei seinem Rom-Besuch alles tat, um sich Ablass zu verschaffen, und wer die berühmte Sammlung seines Landesherren Friedrichs des Weisen in verehrender Absicht besuchte – sie umfasste schließlich mehr als 19 000 Stücke –, dem winkten als Lohn ganze 100 Jahre Ablass pro Reliquie, das heißt 1 902 202 Jahre und 270 Tage insgesamt. Noch attraktiver als ein solches Angebot war nur der Ersatz des Ablasses durch Geld. Tatsächlich verkaufte der Ablasshändler im Namen des Papstes eine Urkunde, den genannten Ablassbrief, aus dem hervorging, dass für den Käufer durch Zahlung eines bestimmten Betrags diese und jene Sündenstrafe erledigt sei. 

Die Möglichkeit, eine Strafe durch Geldzahlung zu ersetzen, war für Luthers Zeitgenossen kein ungewohnter Gedanke. Selbst schwere Straftaten, Körperverletzung oder Mord, konnte man im Mittelalter durch Leistung einer bestimmen Summe erledigen. In bezug auf den Ablass war das ursprünglich eine ganz sinnvolle und menschenfreundliche Maßnahme. Beispielsweise ersparte man so Alten und Kranken die Verbannung oder Strapazen einer Wallfahrt, für die Schwachen wurde das strenge Fasten gelockert oder aufgehoben.

Aber der Erfolg und der ständige Geldbedarf der Kirche führten dazu, dass man das Ablasswesen nach und nach immer weiter ausdehnte. Das betraf vor allem die Gelegenheiten, zu denen man einen Ablass gewähren konnte: für den Kampf gegen die Heiden etwa oder für den Bau einer Kirche, aber auch eines Deichs – jedenfalls in Holland – , für die »Jubeljahre«, die der Papst festlegte, zuerst alle hundert Jahre – beginnend mit 1300 –, dann alle fünfzig, dann alle dreiunddreißig und schließlich alle fünfundzwanzig Jahre. Außerdem, so fragten sich die Berater des Papstes, warum sollte die Möglichkeit, einen Ablassbrief zu kaufen, nur für die kirchlichen Strafen gelten, die man zu Lebzeiten auf­erlegt bekam? Reichte die Macht des Papstes nicht weiter, und war es da nicht ein Gebot der Nächstenliebe, auch die Möglichkeit anzubieten, die Strafen im Fegefeuer zu verkürzen oder abzulösen? Und das nicht nur für die eigene Person, sondern auch für die, die einem nahestanden – die verstorbenen Eltern, den verstorbenen Gatten, die verstorbenen Kinder –, denen man auf solche Weise viel Leiden in der Vorhölle ersparen konnte? 

Mit solchen Auffassungen hatte sich die Führung der Kirche schon sehr weit vorgewagt. Und es kann ihr nicht entgangen sein, dass der Masse der Gläubigen, die von Theologie nichts verstand, das Angebot, das da gemacht wurde, sogar noch viel verlockender erschien. Tatsächlich meinte mancher, dass man sich mit einem Ablassbrief gleich ins Himmelreich einkaufen könnte, dass es möglich sei, schon auf Vorrat Ablassbriefe zu erwerben, für die Sünden, die man noch begehen werde oder sogar zu begehen entschlossen sei, weil man ja mit der Urkunde weder den Zorn der Kirche noch den Gottes fürchten müsse. Das alles, konnte man im Zweifel in Rom sagen, entsprach gar nicht der offiziellen Lehre. Aber man trat den Missverständnissen auch nicht entgegen, weil sie die Einnahmequellen um so kräftiger sprudeln ließen. Deshalb ließ man auch die Ablasshändler gewähren, wenn sie ihre Werbefeldzüge starteten und mit dem, was sie den Leuten versprachen, etwas zu weit gingen.

Zu den erfolgreichsten Ablasshändlern in Luthers Zeit gehörte Johannes Tetzel. Er soll sogar mit dem Spruch Reklame gemacht haben »Wenn erst das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt!« Auf jeden Fall gelang es ihm, in kurzer Zeit sehr viele Menschen dazu zu bringen, seine Ablassbriefe zu kaufen. Auch aus Sachsen strömten ihm Gläubige zu, die dann, nach Hause zurückgekehrt, Luther voller Stolz den Nachweis präsentierten, dass sie sich von ihren Sündenstrafen losgekauft hatten, dass weder Reue noch Buße nötig seien, sondern bloß ein Stück Papier, für das man die festgelegte Summe bezahlt hatte, ja, mehr noch, dass sie auch in Zukunft keiner Sünde aus dem Weg gehen würden, da Gottes Wohlwollen mit einem Ablassbrief so leicht zu bewirken sei.

Wenn Luther schon vorher zu der Auffassung gekommen war, dass der Mensch nicht durch seine frommen Werke, sondern nur durch wahrhaftigen Glauben zu Gott kommen könne, so musste ihn diese Vorstellung von einer Art Handel, bei dem der Mensch zahlte und Gott kassierte, erst recht empören. Hinzu kam noch, dass im Grunde nicht Gott kassierte, sondern Al­brecht von Brandenburg.

Albrecht von Brandenburg war nicht nur Kardinal, das heißt, er hatte den höchsten Rang in der Kirche unterhalb des Papstes inne, er besaß außerdem zwei Erzbistümer, das von Mainz und das von Magdeburg. Um die zu bekommen, hatte er sich hoch verschulden müssen, denn in der Kirche der damaligen Zeit gab es nichts umsonst, jedenfalls kein reiches Erzbistum und schon gar nicht zwei.

Also hatte Albrecht von Brandenburg an Rom gezahlt und dafür Kredite gegen hohe Zinsen aufgenommen. Wenn er nun den Ablasshandel in seinem Machtbereich erlaubte, verband er das mit der Aussicht, diese Last mit einem Schlag loszuwerden. Denn er durfte die Hälfte des Ertrags behalten, die andere Hälfte ging allerdings an den Papst. Der benötigte ununterbrochen Geld, um sein Lieblingsprojekt zu verwirklichen: den Bau einer neuen Peterskirche, größer und prächtiger als jede andere. Dass dafür gigantische Summen notwendig waren, kann sich jeder heutige Rom-Besucher leicht ausmalen, wenn er den Petersdom mitten in der Stadt sieht, wie er sich groß und mit einer riesen Kuppel versehen strahlend weiß erhebt, und erst recht, wenn er sein Inneres betritt, mit all dem Marmor, all das Gold und die Zahl der Kunstwerke sieht.

Von diesen Zusammenhängen ahnte Luther allerdings nichts. Ihm ging es einzig und allein darum, etwas abzustellen, was im Namen der Kirche geschah, aber ohne Zweifel der christlichen Lehre hohnsprach. Nachdem er sich schon mit seinen Freunden und Kollegen besprochen hatte und niemand in der Sache Einwände erhob, nachdem er weiter dem Kardinal Albrecht von Brandenburg einen höflichen, aber in der Sache eindeutigen Brief geschrieben hatte, entschloss er sich zu einem folgenschweren Schritt. Am 31. Oktober 1517 schlug er an der Tür der Schlosskirche zu Wittenberg 95 Thesen an, in denen er erklärte, dass der Ablasshandel mit der christlichen Lehre unvereinbar sei und abgeschafft gehöre. 

Eine These war eigentlich eine begründete Behauptung, wie sie in der Auseinandersetzung zwischen Gelehrten aufgestellt wurde, wenn sie über einen strittigen Sachverhalt diskutierten. Dass es Luther um eine solche Diskussion zwischen Gelehrten ging, konnte man schon daran erkennen, dass er seine Thesen auf Latein abgefasst hatte und an seine Vorgesetzten schickte. Aber in Windeseile wurden sie ins Deutsche übersetzt, als Plakat und als Broschüre gedruckt, zusammengefasst und verkürzt und überall im Reich verbreitet.

Die Begei­sterung der Menschen war unvorstellbar groß. Endlich sprach jemand aus, was viele seit langem dachten. Mit dieser Wirkung hatte Luther kaum gerechnet, was sich auch daraus erklärt, dass seine Argumente eigentlich zurückhaltend waren: Er stellte weder die Autorität des Papstes noch den Ablass als solchen in Frage. Er bestand allerdings darauf, dass die Ablassbriefe Unrecht seien, nicht mit der Lehre der Kirche und schon gar nicht mit der Bibel vereinbar. Die Christen dürften nicht zu der Ansicht verführt werden, dass man durch eine Geldzahlung der Buße für die eigenen Sünden entgehen könne. Umgekehrt dürfe die Kirche aber auch nicht den Eindruck erwecken, als ob Gott unbarmherzig sei und dem reuigen Sünder die Vergebung verweigere, wenn der wahrhaft an Gott und Christus glaube.

Das waren die wohlbegründeten Ansichten des Professors der Theologie. Was die schlichten, aber auch die gebildeten Leser verstanden, war etwas viel Einfacheres: Endlich wurde nicht mehr, wie Luther sagte, »gemurmelt und gemummelt«: dass der Papst und mit ihm die Oberen der Kirche ihre Macht missbrauchten; dass sie nicht nach den Regeln lebten, die die anderen Menschen einhalten sollten; dass sie Heuchler seien und ihr ganzes Streben auf Reichtum gehe, obwohl Jesus und seine Jünger arm waren; dass es sich bei den Ablassbriefen nur um einen weiteren Versuch handelte, den Leichtgläubigen das Geld aus der Tasche zu ziehen; dass diese Ausbeutung nur ein Teil jener skandalösen Ausbeutung sei, der Deutschland seit Jahr und Tag durch den Papst unterworfen wurde. – Endlich sagte es jemand laut und öffentlich!

In vierzehn Tagen war Luther im ganzen Reich ein bekannter, wenn nicht berühmter Mann. 





Martin Luther für junge Leser

Er übersetzte die Bibel ins Deutsche und machte sie damit dem einfachen Volk zugänglich. Sein Thesenanschlag an die Schlosskirche in Wittenberg vor 500 Jahren führte zur Reformation. Es gibt wenige Menschen, die ihren Weg so entschlossen gegangen sind wie Martin Luther. Ein Weg, von dem er überzeugt war, dass Gott ihn gewiesen habe. Luther folgte ihm, unbekümmert um das, was andere Leute sagten, ohne Rücksicht darauf, was die Mächtigen wünschten. Er kämpfte unerschrocken für die Freiheit des Gewissens und war bereit, dafür die Folgen auf sich zu nehmen.Luther ist ein großer Deutscher. Ein Nationalheld, dessen Leistungen für unser Land nicht zu überschätzen sind.

Karlheinz Weißmann: Martin Luther für junge Leser. Prophet der Deutschen,  JF-Edition, Berlin 2017, gebunden im Großformat, 172 Seiten, durchgehend farbige Illustrationen, 24,90 Euro

Karlheinz Weißmann: Deutsche Geschichte für junge Leser. JF-Edition, Berlin 2015, gebunden im Großformat, 252 Seiten, über 100 farbige Illustrationen, 29,90 Euro

Fotos: Martin Luther (1483–1546), hier im fortgeschrittenen Alter; Martin Luther im April 1521 vor Kaiser Karl V. auf dem Reichstag zu Worms: „Gott helfe mir, Amen!“ – Die oft zitierte Version „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“ ist nicht belegt; Martin Luther übersetzt 1521/22 auf der Wartburg die Bibel ins Deutsche; Luther wirft 1520 die Bannbulle, das Kirchenrecht und alte theologische Schriften ins Feuer; Am 31. Oktober 1517 schlägt Luther seine 95 Thesen an