© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

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SPD: Kanzlerkandidat Martin Schulz setzt auf die Abkehr von Gerhard Schröders „Agenda 2010“ / Weichenstellung für Rot-Rot-Grün?
Ronald Berthold

Deutliche Kritik an den statistischen Begründungen für den von SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz angekündigten Linksrutsch seiner Partei äußern Wissenschaftler und Wirtschaftsforscher. Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) benutzt im Zusammenhang mit den Erklärungen des Ex-EU-Parlamentspräsidenten sogar das Wort des Jahres, „postfaktisch“. Schulz will vor allem Korrekturen an der von SPD-Kanzler Gerhard Schröder vorgenommenen Agenda 2010 vornehmen. Dies würde seine Partei in Richtung Linke öffnen, die die SPD vor allem wegen dieser Politik für nicht koalitionsfähig hält.

„Ohne präzise Kenntnis der Zahlen oder der Rechtslage in Deutschland“ habe Schulz seine Forderungen aufgestellt, ätzt die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA). Worum geht es? Schulz will unter anderem befristete Arbeitsverhältnisse einschränken und erklärte, knapp 40 Prozent der 25- bis 35jährigen wären unter solchen Bedingungen beschäftigt. Tatsächlich seien es aber nur zwölf Prozent.

Rot-rot-grüne Machtoption zeichnet sich ab

Der 61jährige behauptet darüber hinaus in fast jeder Rede, daß „es in diesem Land nicht gerecht zugeht“. Auch hier sprechen die Zahlen dagegen. Die Einkommensschere, an der Schulz die von ihm angeprangerte „Ungleichheit“ festmacht, geht seit rund zwölf Jahren nicht mehr erheblich auseinander, zuletzt tendierte sie sogar dazu, sich zu schließen. Das heißt: Die Behauptung, die Reichen würden immer reicher und die Armen immer ärmer, trifft nicht zu. Richtig ist vielmehr, daß sich die Einkommen zwischen Wohlhabenderen und vielen Arbeitnehmern unter Schröder deutlich auseinanderentwickelten, nämlich in den Jahren zwischen 1999 und 2005. Dies allerdings auf die Agenda 2010 zurückzuführen, greift zu kurz. Denn die Erfolge der Arbeitsmarktreformen stellten sich erst nach Schröders Kanzlerschaft ein. Seitdem geht die Erwerbslosigkeit deutlich zurück. Sie hat sich von fünf auf 2,8 Millionen fast halbiert. Damit steigen die Einkommen.

Auch im Vergleich Deutschlands mit anderen Industrieländern gehe es hier laut OECD deutlich gerechter zu. Deutschland fuße auf einem gesunden Mittelstand, was zum Beispiel in den USA ganz anders aussehe. Auch Schulz’ Vorschlag, die Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I zu verlängern, würde „eine schnelle Wiederaufnahme von Arbeit erschweren“, kritisiert die BDA. Andere sprechen davon, daß dies falsche Anreize setze. Es wäre „reine Alimentierung“, meint Michael Hüther vom Institut der deutschen Wirtschaft. Der Arbeitsmarktforscher Stefan Sell ergänzt: „Das ist eine Korrektur, die dem einzelnen dann ein, zwei, drei Monate hilft. Aber es ändert an dem Hartz-IV-System doch gar nichts.“ Im Klartext: Schulz blende, wenn er die Agenda 2010 attackiere.

Bisher verfängt die Strategie jedoch bei den Wählern, in vielen Umfragen legte die SPD deutlich zu, überholte sogar vereinzelt die Union. Doch wie nachhaltig ist dieser Aufschwung? Das Institut für Demoskopie Allensbach hält ihn bis jetzt für ein „Medienphänomen“. Die meisten Menschen hätten keine klaren Vorstellungen von dem, was Schulz wolle, so der Meinungsforscher Thomas Petersen. Daher habe die „Jubel-Berichterstattung“ über die Nominierung des EU-Politikers großen Einfluß auf die demoskopischen Erhebungen. Es wäre „ein Wunder, wenn sich das nicht in den Umfragen niedergeschlagen hätte“. Selbst der SPD-nahe Forsa-Chef Manfred Güllner ist skeptisch, daß die SPD nur mit Schulz’ sozialpolitischen Floskeln und einer Korrektur der Agenda 2010 punkten kann: „Die SPD hat noch nie allein mit sozialer Gerechtigkeit, mit Umverteilungsthemen eine Wahl gewonnen.“

An der Öffnung eines rot-grünen Bündnisses hin zur Linkspartei arbeitete auch schon der Noch-Vorsitzende Sigmar Gabriel. Er wohnte Treffen mit Vertretern von Grünen und Linken bei, um Gemeinsamkeiten auszuloten. Diesen Weg geht Schulz nun inhaltlich weiter. Die Wirtschaftswoche kommentiert: „Martin Schulz marschiert mit roter Fahne voran.“ Der Weg zu einer rot-rot-grünen Machtoption zeichne sich „allzu deutlich ab“. Das Blatt sieht Deutschland unter Schulz auf dem Weg „geradeaus ins Risiko“.