© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

„Zuerst kam Otto, dann das Internet“
Versandhandel: Fast die Hälfte des deutschen Umsatzes machen die drei „Großen“ Amazon, Otto und Zalando
Christian Schreiber

Unter dem Titel „Eine Fundgrube für jede Familie“ erschien vor 90 Jahren der erste Quelle-Katalog. Acht Millionen Exemplare wurden 1999 für das Fürther Versandhaus gedruckt, dazu kamen zwei Dutzend Spezial- und Sonderkataloge. Zehn Jahre später erschien der letzte Quelle-Katalog, finanziert vom Steuerzahler. Doch der 50-Millionen-Euro-Massekredit konnte die Pleite des Traditionsversandhauses nicht verhindern.

Der Firmenname gehört inzwischen dem einstigen Dauerkonkurrenten von der Waterkant – und ja, es gibt ihn noch, den guten alten Katalog aus dem Hause Otto. „Zuerst kam Otto, dann das Internet“, erzählen die Leute in der Firmenzentrale in Hamburg mit einem Augenzwinkern. Heute ist der dicke Wälzer allerdings kein Verkaufsargument mehr, sondern vielmehr ein Marketing-Produkt. Die Kunden lassen ihn sich aus Gewohnheit schicken, blättern ihn auf der Couch durch und bestellen dann im Internet. „Otto Versand Hamburg“, dieser Slogan beschallte früher per Werbefilm die deutschen Wohnzimmer. Man habe „sich blutige Nasen geholt“, gibt man frank und frei zu. Sprich: Auch der Hamburger Konzern hat die Verkaufsrevolution im Internet verschlafen, zumindest ein bißchen.

Weltweiter Umsatz von 1,9 Billionen Dollar

Vergangenes Jahr lag der Umsatz im elektronischen Einzelhandel bei weltweit 1,9 Billionen Dollar. Anbieter wie Alibaba oder JD.com (beide aus China) oder Rakuten (Japan) beherrschen den Markt in Asien. Der US-Konzern Amazon setzte 2016 weltweit fast 136 Milliarden Dollar um – davon entfielen 7,8 Milliarden Euro auf Deutschland. Der deutsche Konkurrent Otto kommt mittlerweile auf 2,6 Milliarden Euro im Internethandel und liegt damit immerhin auf dem zweiten Platz, noch vor dem deutschen Modeversender Zalando (mehr als eine Milliarde). Doch der Markt ist hart umkämpft. Ende März werden die Zahlen des Vorjahres bekanntgegeben, und Zalando hat bereits angekündigt, Otto bei Kleidung und Schuhen den Rang ablaufen zu wollen.

Lange Jahre galt Otto als verstaubt, doch die Manager haben den Zug noch rechtzeitig auf die richtigen Gleise gesetzt. Seit 1995 ist Otto im Internet aktiv, das war allerdings vergleichsweise spät, aber noch nicht zu spät, wie die Konkurrenz. Einst klangvolle Namen sind längst Teil der zwölf Milliarden Euro schweren Hamburger Otto Group, zu der auch noch die Sparten Finanzdienstleistungen und Logistik gehören: Baur, Heine, Manufactum, Neckermann, Schwab oder Witt-Weiden sind wohl die bekanntesten Versender.

Ottos Firmen-Zahlen werden neuerdings nicht mehr in der Hamburger Zentrale präsentiert, sondern in der (Digital)-Hauptstadt Berlin. Daß die Gruppe kein höheres Wachstum erreicht hat, liegt nach Worten des stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden Rainer Hillebrand am kostenintensiven „Umbau der Technologie-Infrastruktur“. Er zeigte sich gegenüber der Berliner Morgenpost mit dieser Entwicklung dennoch zufrieden: „In zahlreichen Konzernunternehmen verzeichnen wir ein hohes zweistelliges Wachstum, in anderen Gesellschaften müssen wir weiter daran arbeiten.“

Der Otto-Konzern hat sich gewandelt. Von einem Versandhaus hin zu einem Technologievertrieb. Einkäufe über das Smartphone werden immer beliebter. Irgendwann, so glauben es Branchenkenner, werde sich der gesamte Einzelhandel digital abspielen. Nach einer Mitteilung des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel (BEVH) wuchs der elektronische Handel von Waren im vergangenen Jahr um 12,5 Prozent auf 52,7 Milliarden Euro. Noch höher war der Anstieg bei Dienstleistungen wie Reisen, Flugtickets oder Konzertkarten, die um 17,8 Prozent auf 14,2 Milliarden Euro zulegten. Der Trend scheint nicht mehr aufzuhalten. „Aus heutiger Sicht wäre dies ein Schritt zurück in die Steinzeit“, findet der BEVH.

In Deutschland kaufen mittlerweile 61 Prozent der Menschen online ein. Der Verteilungskampf ist dabei voll im Gange. Zalando hat ein Wachstum von 23 Prozent angekündigt. „Amazon ist ein Technologiekonzern, der auch Handel betreibt. Otto ist der anpaßbare Onlinehändler, vom Sortiment ähnlich wie Amazon, aber breiter aufgestellt als Zalando“, versucht Otto-Manager Hillebrand die Unterschiede zu erklären.

Aber an dem 1994 gegründeten Platzhirsch Amazon aus Seattle beißen sich alle in Deutschland die Zähne aus. Und jede Aktivität des US-Giganten wird mit Argwohn betrachtet. Denn die Absatzzahlen sind enorm. „Das Wachstum des Versandhandels fällt von Jahr zu Jahr höher aus und hat nun den zweistelligen Bereich erreicht“, konstatiert der BEVH. Für das nächste Jahr erwarte der Verband im Online-Handel mit Waren ein Plus von elf Prozent. Die Kunden ordern vor allem Bekleidung, Elektronik- und IT-Artikel gerne über das Netz. Mehr als 80 Prozent der Kunden bestellen mindestens einmal im Monat im Internet, viele auch öfter. Tendenz steigend.

Nur Startschwierigkeiten beim Lebensmittelhandel?

Aber es gibt Segmente, in denen der Online-Handel noch in den Kinderschuhen steckt. Bei der Lieferung von Nahrungsmitteln hat Walmart in den USA derzeit die Nase vorn – hierzulande ist es die Supermarktkette Rewe. Die Umsatzzahlen steigen von Jahr zu Jahr. Der Branchenprimus ist längst hellhörig geworden. Mit Amazon Fresh holt der Internetkonzern seit einigen Monaten zum großen Schlag gegen den deutschen Lebensmittelhandel aus. Wie schon bei Büchern, Spielzeug, Mode oder Elektronik wird der US-Konzern auch in diesem Feld kaum aufzuhalten sein.

Amazon hat 2016 begonnen, in München und Berlin den Kunden seines Zusatzdienstes „Prime“ auch frische Lebensmittel anzubieten. In den USA rollten 2007 die ersten grünen Kühllaster mit der Aufschrift „Amazon Fresh“ durch die Lande, in Deutschland soll das wohl auch bald so sein. Otto versucht mit seiner Sparte „Gourmet“ dagegenzuhalten. Doch bislang sind Online-Bestellungen im Lebensmitteleinzelhandel eine Nische für hippe Großstadtbewohner mit höherem Einkommen. Nur 0,5 Prozent des Umsatzes (736 Millionen Euro) entfielen 2015 auf dieses Marktsegment.

Insgesamt ist Bewegung in den Markt gekommen. Der Internet-Riese Rakuten versucht sich im europäischen Sport-Sponsoring. Für 220 Millionen Euro unterstützen die Japaner ab Sommer den FC Barcelona. Ausgewählte Spielszenen können Kunden dann exklusiv auf einem eigenen Videokanal sehen und praktischerweise auch dabei einkaufen.

Damit will Rakuten endlich auf dem EU-Markt reüssieren. Mitte 2014 hatten sie noch erklärt, daß man sich Amazon geschlagen gebe. Der französische Schuh-Anbieter Sarenza macht sich Gedanken über seine strategische Ausrichtung. Derzeit hält das Unternehmen angeblich 90 Prozent des europäischen Schuh-Online-Marktes. „Was bei Schuhen geht, muß auch bei anderen Sachen gehen“, denkt die Pariser Firmenleitung laut über eine Expansion auf andere, lukrative Online-Bereiche nach.

Bundesverband E-Commerce und Versandhandel Deutschland (BEVH): www.bevh.org