© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Das Assoziationsabkommen mit der Türkei garantiert weitreichende Sonderrechte
Ausweisung unmöglich
Dieter Amann

Es gibt im real existierenden Bundesrepublikanismus gewisse Dinge, die unsere Herrschereliten gern für immer unter dem Mantel des Schweigens verborgen halten würden, vor allem unschöne Dinge. Dazu gehören beispielsweise der Mißbrauch des Kindergeldes für (angebliche oder tatsächliche) Kinder in Bulgarien, Rumänien oder andernorts, die Mitversicherung von Eltern der in Deutschland gesetzlich versicherten Türken in der Türkei oder – noch unbekannter – die skandalösen ausländerrechtlichen Auswirkungen des „Assoziationsratsbeschlusses 1/80“.

Um das erklären zu können, muß man tief graben: Diese Geschichte beginnt vor über 50 Jahren am 12. September 1963, als die Türkei und die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft das „Abkommen zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei“ schlossen. Damals war die Welt in dieser Hinsicht insoweit noch in Ordnung, als sich eine strikt laizistisch-kemalistische, zutiefst agrarisch geprägte Türkei auf dem besten Weg nach Westen befand.

Dieses Abkommen sollte die wirtschaftliche Annäherung der Türkei an die EWG in vielfacher Hinsicht, zum Beispiel durch Abbau von Zöllen und gegenseitigen Warenaustausch, erleichtern, mit dem Fernziel der Aufnahme in die EWG. Es wurden diverse Zusatzprotokolle vereinbart; des weiteren wurde ein Gremium eingerichtet, der sogenannte „Assoziationsrat“, der eben die Aufgabe hatte, den Weg der Annäherung zu gestalten, unter anderem mit entsprechenden Beschlüssen. Um diesen Rat ranken sich einige Geheimnisse. Es ist weder bekannt, wer darin sitzt, noch wann sich wer wo trifft – die Bilderberger sind dagegen der reinste Geselligkeitsverein.

Einer der Beschlüsse dieses Rates vom September 1980 – der ARB 1/80 – sollte die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer regeln. Türkische Arbeitnehmer mit Arbeitserlaubnis in einem Land der EWG erhielten einen Anspruch auf Verlängerung dieser Arbeitserlaubnis unter bestimmten zeitlichen Voraussetzungen, nach vier Jahren unbefristet; das gleiche Recht erhielten erlaubtermaßen nachgezogene Familienangehörige (Artikel 6 und 7). Und in Art. 13 wurde festgeschrieben, daß keine neuen Beschränkungen für den Arbeitsmarktzugang erlaubt sind (sogenannte „Stand-still-Klausel“ oder Verschlechterungsverbot).

Bis etwa 1990 wirkten sich diese Privilegien kaum auf das innerstaatliche deutsche Recht aus. Sie regelten einzig und allein Ansprüche auf Arbeitserlaubnisse. Bis jemand auf die geniale Idee kam, den Europäischen Gerichtshof anzurufen. Dieser erließ in der Folge einige Entscheidungen, die das deutsche Ausländergesetz für die schon damals zahlenmäßig größte Minderheit in Deutschland größtenteils zum Erlöschen brachten. Denn die Richter adelten den ARB 1/80 in den Stand eines „integrierenden Bestandteils der Gemeinschaftsrechtsordnung“ und koppelten die Ansprüche auf Arbeitserlaubnisse unlösbar an Ansprüche auf Aufenthaltserlaubnisse – wohlgemerkt mittels eines rein judikativen Rechtsetzungsakts; keine Volksvertretung durfte je über eine so weitreichende Revolution des Ausländerrechts mitentscheiden.

Konkret bedeutete dies, daß türkische Arbeitnehmer – ohne daß dies im Gesetz stand – parallel zum Anspruch auf Verlängerung der Arbeitserlaubnis einen Anspruch auf Verlängerung der nationalen Aufenthaltserlaubnis erhielten, wenn sie bestimmte zeitliche Voraussetzungen einer – auch geringfügigen – Tätigkeit erfüllten. Eine Beendigung des Aufenthalts bei längerer Arbeitslosigkeit war nicht mehr möglich. Damit wurde der fundamentale Grundsatz der Notwendigkeit der eigenständigen Sicherung des Lebensunterhalts als Voraussetzung für eine Verlängerung des Aufenthaltstitels faktisch aufgehoben.

Das Wort „Revolution“ ist hier nicht zu weit gegriffen. Denn alle anderen Bestimmungen des ARB 1/80 wurden gleichfalls in die aufenthaltsrechtliche Dimension transferiert, aber in eine Dimension, die über das für „normale“ Ausländer geltende Aufenthaltsrecht weit hinausgeht. So erlischt das Aufenthaltsrecht von sogenannten „Assoziationsberechtigten“ beispielsweise in aller Regel nur unter den Voraussetzungen des Artikels 14 aus Gründen der „öffentlichen Ordnung“. Diese unverfängliche Formulierung muß – ebenfalls nach dem Willen der Europarichter – analog den Bestimmungen für EU-Bürger gelesen werden, das heißt, eine Aufenthaltsbeendigung ist nur unter höchst schwierigen Bedingungen möglich.

Der ARB 1/80 ist so etwas wie ein parallel existierendes, undemokratisch erlassenes Elite-Ausländerrecht mit diskriminierender Wirkung gegenüber allen anderen Ausländern. Er hat sich mittlerweile zu einem eigenständigen Rechtsgebiet entwickelt.

Für berechtigte Türken bedeutet das eine Außerkraftsetzung der für normalsterbliche Ausländer geltenden Verlängerungs- und Ausweisungsregelungen. Konkret an einem Beispiel: Ein „normaler“ Ausländer darf keine Verlängerung seines befristeten Titels erhalten und wird gegebenenfalls zur Ausreise aufgefordert, wenn er eine bestimmte Strafe erhält. Ein Assoziationsberechtigter kann mehrfach schwer kriminell werden, ohne daß er dasselbe fürchten müßte. Ebenso verhält es sich bei Ausweisungen: Die Hürden für Assoziationsberechtigte sind so hoch, daß ihre Ausweisung so gut wie unmöglich ist; die Ausweisung „normaler“ Ausländer ist – wenngleich schwierig – dagegen schon einfach zu nennen.

In der Praxis der Ausländerämter heißt das: Mitteilungen über Straftaten, die von assoziationsberechtigten Türken begangen wurden, werden achselzuckend in die Akte gehängt – Abschiebung unmöglich. Akten von „normalen“ Ausländern werden aber darauf überprüft, ob eine Ausweisung angesagt ist. Assoziationsberechtigte Türken dagegen erhalten – wenn ihre „normale“ zeitlich beschränkte Aufenthaltserlaubnis aufgrund von Straftaten nicht verlängert werden kann – einfach eine „deklaratorische“ Aufenthaltserlaubnis nach Paragraph 4 Abs. 5 Aufenthaltsgesetz, der diesen Status nicht schafft, sondern nur bestätigt. Denn sie besitzen den ARB-Status „unsichtbar“ hinter einem herkömmlichen Aufenthaltstitel, den sie gar nicht brauchen. Daher halten sie sich auch nicht illegal auf, wenn sie ihren befristeten Titel ablaufen lassen, noch machen sie sich dadurch strafbar wie andere. Sie sind vollkommen von den Bestimmungen des Aufenthaltsgesetzes abgekoppelt. Der ARB 1/80 ist so etwas wie ein parallel existierendes, undemokratisch zustande gekommenes Elite-Sonder-Ausländerrecht mit diskriminierender Wirkung gegenüber allen anderen Ausländern.

Er hat sich mittlerweile zu einem eigenständigen Rechtsgebiet mit fast unüberschaubarer Kasuistik entwickelt, dem ein normaler Ausländersachbearbeiter in der Regel nicht gewachsen ist, da kein förmliches Gesetz existiert, nur Rechtsprechungen. Die „Allgemeinen Anwendungshinweise zum ARB 1/80“ des Bundesinnenministeriums, Stand 2013, haben allein einen Umfang von über 100 Seiten. Die Assoziationsberechtigung ist im nachhinein oft höchst schwierig festzustellen. Das hat zur Folge, daß in der Praxis im Zweifel immer auf eine Assoziationsberechtigung „getippt“ wird. Abgesehen davon eröffnet die Orientierung am EU-Recht für die Auslegung auch noch dem Mißbrauch Tür und Tor. Beispielsweise benötigt kein Türke eine Vollzeitstelle, um die Assoziationsberechtigung zu erlangen, sondern die Rechtsprechung hat schon eine wöchentliche Arbeitszeit – ohne jede schriftvertragliche Bindung nach dem europäischen Arbeitnehmerbegriff – von sechs bis zehn Stunden pro Woche ausreichen lassen. Anders ausgedrückt, wer seinem türkischen Landsmann eine entsprechende Putzstelle bescheinigt, hat gute Chancen, diesem gleich dazu einen quasi unzerstörbaren Aufenthaltsstatus zu verschaffen.

Das gesamte Assoziationsabkommen muß aufgekündigt werden. Nach über 50 Jahren sind alle Rahmenbedingungen, unter denen es zustande gekommen ist, entfallen. Die Türkei benötigt die Unterstützung der Signatarstaaten nicht mehr.

Ein weiteres Beispiel für die Absurdität des Systems: Zahlt der „normale“ Ausländer für eine Niederlassungserlaubnis zwischen 135 und 250 Euro, begnügt sich der Staat für Assoziationsberechtigten, die gern neben ihrem deklaratorischen Titel noch eine Niederlassungserlaubnis hätten, mit 28,80 Euro, was nicht einmal dem Material-Selbstkostenpreis entspricht. Andere Gebühren werden gleich ganz erlassen. Wer’s nicht glaubt: siehe Paragraph 52a Aufenthaltsverordnung.

Der Unglaublichkeiten aber nicht genug, hat die Rechtsprechung den Abkömmlingen von Assoziationsberechtigten das Assoziationsrecht als fakisch erbliches Lehen verliehen. Denn hält sich ein Kind nur drei Jahre bei einem Elternteil auf, „der dem regulären Arbeitsmarkt angehört“ – ohne daß dieser selbst bereits einen ARB-Anspruch erreicht haben muß –, kommt ihm über Artikel 7 ein praktisch unzerstörbares, unverlierbares eigenes Assoziationsrecht zu (ohne daß das Kind jemals selbst eine Arbeit aufzunehmen braucht). Und dessen Kindern natürlich auch. Das Bundesverwaltungsgericht hat gar unter Berufung auf den ARB 1/80 entschieden, daß der türkischen Ehefrau, die ihrem assoziationsberechtigten Ehemann nachziehen will, keine Sprachprüfung abverlangt werden darf – Ausfluß der „Stand-still-Klausel“ des Art. 13 ARB 1/80.  Rechtsstreitigkeiten über diese Frage schwelen bis heute.

Der Status ARB 1/80 steht hinsichtlich seiner Rechtswirkungen noch über der höchsten Verfestigungsstufe herkömmlicher Ausländer, also der unbefristeten Niederlassungserlaubnis, und entspricht den Rechten von EU-Angehörigen, die ihrerseits Inländern angeglichen sind. Mit anderen Worten: Türken genießen aufenthaltsrechtlich in etwa denselben Status wie Deutsche.

Der ARB 1/80 stellt eine empörende, durch nichts gerechtfertigte, maßlose Besserstellung von türkischen Staatsangehörigen dar. Er ist nicht mittels demokratischer Gesetzgebungsverfahren zustande gekommen, sondern durch Richter ergangen, die absolutistischen Herrschern vergleichbar sind. Er ist einem völlig pervertierten EU-Recht und seinem Wahn zu einer „immer engeren Union“ (wozu schon immer auch die Türkei gehören sollte) zu verdanken. Er diskriminiert im Umkehrschluß alle anderen drittstaatsangehörigen Ausländer, die sich dem Aufenthaltsgesetz unterwerfen müssen. Er stellt die drittstaatsangehörigen Türken EU-Bürgern gleich. Er erhebt sie teilweise sogar über Deutsche, deren drittstaatsangehörige Ehegatten nur mit einem Nachweis deutscher Sprachkenntnisse einreisen dürfen.

Das gesamte Assoziationsabkommen muß aufgekündigt werden. Denn nach über 50  Jahren sind alle Rahmenbedingungen, unter denen es zustande gekommen ist, entfallen. Die Türkei benötigt die Unterstützung der Signatarstaaten nicht mehr. Sie ist mittlerweile nicht nur Industriestaat mit hohen Wachstumsraten, sondern auch eine faktische Diktatur. Allein das Beharrungsvermögen von Staatsbürokratien, Scheu vor Konflikten mit der Türkei, die Förderung einer türkisch-moslemischen Besiedelung Europas, das Fehlen einer echten Opposition im deutschen Bundestag, möglicherweise eine gewisse Korrumpierung der Mitglieder des Assoziationsrats und dergleichen mehr verhindern bisher, daß dieses Thema angegangen wird.

Leider enthält das Abkommen selbst – Absicht oder Versehen? – keine Kündigungsklausel. Daher muß gegebenenfalls auf die Bestimmungen des „Wiener Übereinkommens vom 23. Mai 1969 über das Recht der Verträge“ zurückgegriffen werden.

Es bleibt zu hoffen, daß mit der Neuwahl des Bundestages eine Opposition einzieht, die nicht nur so heißt, sondern die auch den Sachverstand aufweist, um der Regierung auf diesem Feld – aber nicht nur hier – peinliche Fragen zu stellen.






Dieter Amann, Jahrgang 1962, ist Parlamentarischer Berater der AfD-Fraktion im baden-württembergischen Landtag für Inneres und Recht, Migration, Asyl und Integration. Der Diplom-Verwaltungswirt (FH) war 25 Jahre in verschiedenen Bereichen der Ausländerverwaltung tätig. Er leitet den Landesfachausschuß 3 (Zuwanderung/Asyl) in Baden-Württemberg und den Bundesfachausschuß 4 (Familie, Zuwanderung/Asyl) und ist Mitglied der Bundesprogrammkommission der AfD.