© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Keine Zukunft an der Wolga
Vor 25 Jahren machten russische Pläne für die Rußlanddeutschen Furore: Den Exodus in die Bundesrepublik hielten sie nicht mehr auf
Jürgen W. Schmidt

Nach der Zerschlagung ihrer autonomen Wolgarepublik wurden die Rußlanddeutschen 1941 gewaltsam nach Mittelasien und Sibirien deportiert und unter Chruschtschow nur teilrehabilitiert. Als ab Mitte der achtziger Jahre mit der beginnenden Perestroika in der UdSSR viele ungelöste nationale Widersprüche hochzukochen begannen, meldeten sich auch die etwa zwei Millionen Rußlanddeutschen zu Wort, deren damalige Wortführer der Biologe Heinrich Groth und der Journalist Hugo Wormsbecher waren. 

Es ging ihnen vor allem um eine vollständige Rehabilitation wegen der einstigen Beschuldigung der Kollaboration mit der Wehrmacht 1941, um die Wiedererrichtung der Republik der Wolgadeutschen am historischen Ort und um Kompensationen für das seinerzeit beschlagnahmte Eigentum und die erlittenen Repressalien. Am 28. März 1989 trafen sich 135 rußlanddeutsche Aktivisten in Moskau, um hier unter großem bundesdeutschen Medienecho ihre Gesellschaft „Wiedergeburt“ (Wosroschdenije) zu gründen. Die sowjetische wie die bundesdeutsche Regierung widmeten diesen Aktivitäten aus unterschiedlichen Gründen großes Interesse. 

Verseuchtes Militärgelände als neue Heimat angeboten

Drohte Gorbatschow hier vor allem ein neuer innerer Krisenherd, zusätzlich zur ökonomischen Krise und den in Rußland schon existenten ethnischen Konflikten, so verspürte die Bundesregierung eine ganz andere Gefahr. Hatte sich Bonn bislang stets lautstark für alle Auslandsdeutschen eingesetzt, so befürchtete man jetzt einen Exodus ungeahnten Ausmaßes in die Bundesrepublik, wenn es nicht gelänge, die Masse der Rußlanddeutschen zum Verbleib in der Sowjetunion zu bewegen. Waren 1987 ganze 10.000 Rußlanddeutsche in die Bundesrepublik ausgereist, stieg deren Zahl 1988 auf 50.000, und allein im ersten Halbjahr 1989 waren es 48.000 Rußlanddeutsche, welche die Abstimmung mit den Füßen in Richtung Bundesrepublik wählten. 

Doch mehr als 200.000 Einwanderer jährlich glaubte die Bundesrepublik nicht verkraften zu können. Gorbatschow suchte diese wachsende Ausreisebewegung gut ausgebildeter Bevölkerungsteile durch eine vage Deklaration des Obersten Sowjets vom 14. November 1989 einzudämmen, indem man namentlich den Deutschen und den Krimtataren die „bedingungslose Wiederherstellung der Rechte“ versprach. Nur zwei Tage später ordnete Gorbatschow die Bildung eines staatlichen Komitees an, welches die damit verbundenen praktischen Probleme klären sollte. Nur war die Sowjetunion zu diesem Zeitpunkt schon bankrott, und Gorbatschow begann innerhalb des Landes merklich an Autorität zu verlieren. 

Unter Führung örtlicher Parteifunktionäre meldeten sich in den zur Wiederbesiedelung durch Deutsche vorgesehenen Gebieten russische Chauvinisten zu Wort, welche verkündeten „Alle Deutschen zurück an die Wolga, aber nur, um sie darin zu ersäufen“, oder etwas moderater „Das Wolgagebiet darf kein neues Baltikum werden“. Seitens der bundesdeutschen Regierung weilte ab diesem Moment der Aussiedlerbeauftragte Horst Waffenschmidt (1933–2002) häufig in der zerfallenden Sowjetunion, um mittels Einsatz von finanziellen Zuwendungen (dreistellige Millionenbeiträge) die sowjetische Regierung unter Gorbatschow, später die russische Regierung unter Jelzin zu bewegen, den Ansturm von Millionen Rußlanddeutschen in die unter den Belastungen der deutschen Wiedervereinigung ächzende Bundesrepublik zu verhindern. 

Zwar wurden die deutschen Gelder gern genommen, doch gegen den Widerstand der russischen Bevölkerung ließ sich die Wolgadeutsche Republik nicht neu errichten. Das von Geschoßtrümmern übersäte, vormalige Raketenpolygon Kapustin Jar, welches Boris Jelzin schließlich im Januar 1992 den Rußlanddeutschen zur Urbarmachung als neue „Rußlanddeutsche Republik“ anbot, konnte man eigentlich nur als Verhöhnung betrachten. Deshalb kippte bei immer mehr Deutschstämmigen ab 1991/92 die Stimmung in Richtung Ausreise, denn man sah keine Zukunft mehr für sich in Rußland. 

Der Option Nordostpreußen folgten nur wenige

Es tauchten damals wirre Phantasiegebilde auf, wonach die Bundesrepublik beispielsweise rußlanddeutsche Einwanderer in Argentinien mit 20.000 Dollar pro Kopf fördern sollte. Als letzter Notnagel galt schließlich der Gedanke, das dünn besiedelte „Kaliningradskaja Oblast“, das alte Ostpreußen, als neue Heimat für die Rußlanddeutschen herzurichten, denen nur einige tausend der meist aus Kasachstan kommenden Deutschen tatsächlich folgten. 

Doch der richtige Zeitpunkt für solche Maßnahmen war verpaßt, denn ab 1991 strömten die Rußlanddeutschen massenhaft nach Deutschland. Bis 1998 wanderten 1,8 Millionen Menschen ein. Schließlich wurden deutsche Behörden ungemein kreativ, um die letzten noch Ankommenden abzuwehren. Man führte ab 1996 amtliche „Sprachtests“ ein, bei denen immerhin jeder dritte einreisewillige „Aussiedler“ abblitzte. Im Mai 1997 scheiterte der Aufnahmebescheid des Rußlanddeutschen Waldemar Wagner in Hamburg gar an seinem mangelnden „volksdeutschen Bewußtsein“. 

Etwa um 1998 war die 200jährige Geschichte der Rußlanddeutschen beendet. Die Bundesrepublik unter Helmut Kohl hatte sich anfangs sehr schwer getan, die knapp zwei Millionen Rußlanddeutschen aufzunehmen. Doch sind diese heute gut integrierte Mitbürger geworden.