© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 10/17 / 03. März 2017

Im Adrenalinrausch
Querfeldein: Räuberleiterromantik bei den härtesten Hindernisrennen
Martin Voigt

Schweiß und Adrenalindämpfe wabern durch die frostige Luft. 2.000 Mann haben nur ein Ziel: irgendwie durchkommen, wenn möglich unverletzt. Stacheldraht spannt sich über den matschigen Boden. Der Puls rast. Die Kälte ist vergessen.

Im thüringischen Rudolstadt dröhnt „We are the Champions“ aus den Lautsprechern über die mit Schnee gezuckerte Wiese. „Ten, nine, eight“ zählt eine weibliche Computerstimme nach unten. Noch wenige Augenblicke und die Menge wird lossprinten, sich in den Matsch werfen und etliche Meter unter dem Stacheldraht durchrobben, um anschließend einen Wassergraben zu durchwaten. Eine nasse Einstimmung auf den Halbmarathon, der querfeldein genauso verrückt weitergehen wird. 

Hindernisläufe dieser Art spielen mit dem Flair militärischer Bootcamps, tragen epische Namen wie „Tough Mudder“, „Spartan Race“, „Strong Viking“ und sind der letzte Schrei bei einem männlichen, erlebnisorientierten Publikum in jungen und mittleren Jahren. 

„Getting Tough to Race“ heißt das thüringische Pendant zu Deutschlands größtem „Strongman Run“ am Nürburgring. Zwei Propellermaschinen fliegen hinweg und die Menge hüpft begeistert auf und ab. Matthias Götze und seine Freunde aus dem Fitnessstudio stehen in der ersten Reihe. Als ein Böllerschuß das Feld freigibt, flitzen sie los. „Niemand will am ersten Hindernis in eine Warteschlange geraten“, erklärt der 21jährige Langstreckenläufer mit Rennsteighintergrund.

Eine martialisch anmutende Läuferschar zieht vorüber. Manch einer trägt Wikingerhelm oder droht den jubelnden Zuschauern mit Thors Hammer. Doch hinter der harten Schale verbirgt sich ein weicher Kern. Gegenseitig hilft man sich die schmierigen Hinderniswände hinauf. Pure Räuberleiterromantik. 

Ein großer Teil derjenigen, die Dutzende Hindernisse zum Kriechen, Hangeln, Klettern und Durchtauchen bewältigen, sind weder übermütige Jungspunde noch Sportprofis sondern ganz normale, mittelalte Männer des 21. Jahrhunderts. Was begeistert sie, Wasserwerfern mit breiter Brust und Kriegsgeschrei entgegenzurennen und ihre überschüssigen Pfunde letztlich irgendwie ins Ziel zu quälen?

Nun, die männliche Variante des Homo sapiens braucht Bewegung an frischer Luft und eine greifbare, abwechslungsreiche Aufgabe. Statt dessen kauert der moderne Mann den ganzen Tag in abgedunkelten, klimatisierten Büros und perfektioniert die Entzündung in der Zeigefingersehne und den einseitigen Druck auf die Bandscheiben. Über die Jahre immer antriebsloser geworden, vegetiert er auch an jenen Feierabenden auf der Couch vor sich hin, an denen kein Familieneinkauf oder Elterngespräch ansteht. Die alten Fußballschuhe verstauben im hintersten Eck des Schuhregals. Träge im Gemüt und schlaff im Erscheinungsbild flüchten sich die Zivilisationsopfer statt dessen in virtuelle Spielewelten mit archaischen Helden und ansehnlichen Elfen, auf Hardrock-Konzerte, wo man den letzten Rest vom Haarkranz so richtig durchschütteln kann, in Alkohol, oder sie schlagen in schmerzlich spontaner Erinnerung an ihre auf der Strecke gebliebene Männlichkeit über die Stränge und melden sich bei einem dieser Chaosrennen an. Dann heißt es trainieren, und die Vorfreude steigt.

Was für eine herrliche Reallife-Nische in einer gegenderten Lebenswelt. Echter Matsch gegen einen Alltag aus Soft Skills. Echte Hindernisse und blaue Flecken statt Behördenkauderwelsch und Online-Banking. Unter Kampfgefährten der maskulinen Existenz nachspüren. Pustekuchen! Denn auch diese Nische entdecken immer mehr Frauen für sich und berappen mit Freude Startgebühren zwischen 50 und 120 Euro. An der Startlinie tummeln sich die Drahtamseln aus der regionalen Aerobic-Szene im Lara-Croft-Outfit. Mit größtem Vergnügen und ungleich filigraner robben sie den Männern voran durch den Schlamm. So ein Matschrennen gibt es sogar ausschließlich für Frauen. Es heißt „Muddy Angel“.

Youtube ist voll mit spektakulären Werbevideos der Veranstalter. Wild entschlossen klettern, rutschen und hangeln dreckige Menschen durch den Hindernisparcours und grinsen dabei in die Kamera. Wie ewig sich zwischendrin die Laufkilometer ziehen, sieht man nicht. Triefnaß auskühlen, weil es sich vor irgendeiner Kletterwand staut, das sind dann eher persönliche Erfahrungswerte. Als Leistungssportler sollte man sich gut überlegen, ob man bei eisigen Temperaturen mit anderen in der Schlange durch knöchel- oder auch kniehohe Schlammlöcher stolpern will, meint Matthias, der mit seiner Truppe die Tortur gut überstanden hat. „Das Risiko, sich zu verletzen, ist schon hoch“, warnt der Medizinstudent. Aber vielleicht will er noch einmal mitmachen, wenn sein Bruder 18 ist. Volljährig muß man nämlich sein und unterschreiben, daß im Falle des Ablebens die Hinterbliebenen keine Schadensersatzforderungen stellen.