© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Und plötzlich ist alles anders
Nach Sturz ein Schlaganfall: Wie Angehörige unvorbereitet vor einer ganz neuen Situation stehen
Verena Inauen

Es war ein frostkalter Sonntagmorgen, als Hannelore Rauh den Frühstückstisch deckte. Ihre beiden Söhne sollten zum Frühstück vorbeikommen. Seit dem Tod ihres Mannes vor fünf Jahren regelte die rüstige Seniorin ihre Alltagsgeschäfte alleine. „Das hält mich fit“, sagte die 75jährige immer mit klarem Blick, erzählt Sohn Klaus schmunzelnd der JUNGEN FREIHEIT.

An diesem Januartag scherzte die Familie bei Kaffee und Buttercroissants noch über die im Vorjahr wieder nicht eingehaltenen Neujahrsvorsätze und setzte sich neue Ziele für 2017. „Endlich etwas abnehmen“, nahm sich der ständig unter Streß stehende Sohn Klaus vor. Der 45 Jahre alte Einzelhandelskaufmann verdient bei einer großen Lebensmittelkette sein täglich Brot. Das Einkommen reicht nur, weil mit dem Schul­eintritt des jüngsten Kindes auch seine Frau eine Halbtagsstelle angenommen hat. „Mehr Zeit für die Familie“ wollte sich der zweite Sohn, Karsten, nehmen. Als Bautechniker ist er viel unterwegs, um es seiner Frau zu ermöglichen, die jüngste Tochter zu Hause zu betreuen. Die mittlerweile fünffache Großmutter Hannelore wünschte sich beiläufig weiterhin, „so gesund zu bleiben“. Man war sich einig: Das sollte sich machen lassen.

Mama, ist alles in Ordnung? Ihr Blick war leer

Schließlich machten sich die drei untergehakt auf den Weg, um etwas frische Luft zu schnappen. Viele Sonnenhungrige taten es ihnen gleich. Verliebte Pärchen, die einander stützend an den Händen hielten, Familien mit kleinen Kindern, die ihren Nachwuchs ermahnten, achtzugeben auf dem glatten Eis.

Und plötzlich ein gellender Schrei. Auf einer der Eisplatten im Schatten glitt Hannelore Rauh aus. Sie stürzte mit Rücken und Kopf auf den gefrorenen Waldboden. Einer der Passanten griff zum Telefon, wählte den Notruf. Doch Frau Rauh streckte der mittlerweile versammelten Menge schließlich beide Hände entgegen und forderte sie auf, ihr hochzuhelfen. „Verdammt rutschig hier“, scherzte sie noch. Sie rappelte sich auf. Prüfende Blicke. „Mama, ist alles in Ordnung?“ Plötzlich blieb sie erneut stehen. Sah ins Leere. Und sackte bewußtlos zusammen. „Dann ging alles ganz schnell“, erzählt Karsten. Der vom Notarzt begleitete Feuerwehrwagen brachte sie in das Benjamin-Franklin-Krankenhaus. „Stundenlang saßen Klaus und ich wie in einer der unzähligen Ärzteserien im Fernsehen auf dem Gang, warteten und rechneten mit dem Schlimmsten“, erinnert sich der jüngere Sohn. Die Diagnose schließlich: Schlaganfall. Eine von jährlich 270.000 gleichen Diagnosen in ganz Deutschland. 

Mit einem Mal müssen sie sich nun um die Versorgung ihrer pflegebedürftigen Mutter kümmern. Und die Kosten dafür bewältigen. Beide stehen mitten im Berufsleben. Sollte einer seine Stelle aufgeben? Oder doch eine völlig fremde Hilfskraft engagieren? Ist vielleicht ein teures, aber kompetentes Pflegeheim das Richtige? „Die eigene Mutter einfach dorthin abschieben?“ sprach Klaus aus, was auch Karsten umtrieb. Doch Frau Rauh kann sich nicht mehr selber ernähren, das Schlucken fällt ihr überaus schwer. Ihre Wohnung im Obergeschoß ist nun mit dem Rollstuhl, auf den sie angewiesen ist, nicht mehr benutzbar.

Doch eine Vorsorgevollmacht hat die bis vor kurzem ihre Angelegenheiten selbst regelnde Seniorin nicht aufgesetzt. Eine persönlich unterschriebene Anweisung hätte gereicht. Ihre eigenen Kinder haben nun weder Zugriff auf die für Notfälle angelegten Ersparnisse der Mutter,  noch können sie über die weiteren Schritte in der Versorgung entscheiden. Auch die Wohnung dürfen die beiden nicht im Namen ihrer nun handlungsunfähig gewordenen Mutter kündigen, genausowenig wie das Auto verkaufen oder den Telefonvertrag ändern. Nun muß ein Gericht übernehmen. Ein Schock nach dem Schock.