© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Bis zum Kollaps der Modernisierung
Mit Karl Marx im Sturmgepäck gegen die Plutokratie: Der 2012 verstorbene Philosoph Robert Kurz als Fundamentalist der Globalisierungskritik
Wolfgang Müller

So ein Pech! Just als die multiple Krise des globalisierten Kapitalismus das zarte Pflänzchen einer Marx-Renaissance zu nähren begann, starb Robert Kurz. 2012, im Alter von gerade einmal 69 Jahren. Damit verlor die gerade wieder erstarkende Internationale neomarxistischer Theoretiker ihren klügsten Kopf. Und ihren ganz im Sinne von Karl Marx radikalsten Denker. Radikal, weil er die Wurzeln der Dinge aufgrub. 

Kurz, Privatgelehrter und Publizist, erst als Mittfünfziger mit seinem fulminanten, rasch fünf Auflagen erzielenden „Schwarzbuch des Kapitalismus“ (1999) weiten Kreisen bekannt geworden, war sogar so radikal, daß sein kritischer Furor nicht einmal vor dem Werk des Meisters haltmachte. Dabei ging es ihm eben nicht um Basis und Überbau, die Geschichte als Abfolge von Klassenkämpfen, die Verheißung der klassenlosen Gesellschaft, Mehrwert und Ausbeutung oder ähnliche Versatzstücke aus der eisernen Ration marxistischer Dogmatik, mit deren „Widerlegung“ sich Generationen von Antimarxisten einst eifrig abmühten. 

Für Kurz hingegen lohnten Auseinandersetzungen um die messianische Geschichtsphilosophie, die noch Chinas proletarische Massen zum „Großen Sprung“ mobilisierte, genausowenig wie exegetisches Fingerhakeln um Feinheiten im Systembau der politischen Ökonomie, die von jeher die Rezeption des „Kapital“ behinderten. Den größten Teil dieses ideologischen Meublements gab Kurz gern in den Sperrmüll. 

Allerdings erst, nachdem er damit in den 1960ern und 1970ern reichlich Lebenszeit verschwendet hatte, im westdeutschen K-Gruppen-Milieu, wo man sich, wie bei niederen Organismen üblich, nur durch Zellteilung fortpflanzte und endlich selbst marginalisierte. Daß er sich wie Münchhausen am eigenen Schopf aus dem Sumpf dieser zersplitterten Orthodoxie zog, um fortan eine von den ehemaligen Mitstreitern als „fundamentalistisch“ bekämpfte Extremposition zu besetzen, kam seiner analytischen Potenz indes sehr zugute. 

Letztere stellte er etwa unter Beweis, als er den sicheren Untergang des sowjetischen „Kasernensozialismus“ prognostizierte. Mauerfall und die Implosion des Ostblocks boten Kurz daher nichts Überraschendes. Ebensowenig wie die Entwicklung nach 1989, die Kurz nicht mit Francis Fukuyama als universaldemokratisches „Ende der Geschichte“ unter Pax-Americana-Dach deutete, sondern schon 1993 mit dem zuverlässigeren Gewährsmann Carl Schmitt als „Weltbürgerkrieg“ vorhersagte. Auch seine spätere, heute schon klassische Zwischenbilanz „Weltordnungskrieg“ (2007) ragt wie ein erratischer Block aus dem erbärmlich surrealen Global-Governance-Geschwätz jener bundesrepublikanischen Politologenschaft heraus, die mit der Inbrunst von Regentänzern die „alternativlose nachgeschichtliche Weltgesellschaft“ (Lutz Niethammer) herbeifleht. 

Mit Marx über Marx hinausdenken, um die „Weltvergesellschaftung des Geldes“ zu durchleuchten und zu deren Abschaffung beizutragen, so lautete seit Mitte der 1980er Kurz’ nicht eben bescheidene Devise. Archimedischer Punkt seiner Kritik ist der Arbeitsbegriff, gerichtet gleichermaßen gegen die Apologeten der kapitalistisch-demokratischen Marktwirtschaft wie gegen Marx und den verachteten „Arbeiterbewegungsmarxismus“, der bei Kurz das gesamte, sich letztlich mit Reformen der kapitalistischen Gesellschaftsmaschine begnügende linke Spektrum umfaßt. 

Marx, so moniert Kurz, unterscheide sich mit seinem emphatischen Verhältnis zur Arbeit nicht von Predigern protestantischer Leistungsethik wie Martin Luther, Immanuel Kant oder Adam Smith, die Arbeit als Sinn des Daseins definierten und dadurch an der ideellen Gewöhnung und mentalen Abrichtung des Subjekts für die Zwecke der modernen Konkurrenzwirtschaft mitwirkten. Ähnlich klang es bei Marx, der in seiner „Kritik des Gothaer Programms“ der wilhelminischen SPD den Genossen um August Bebel einen Blick in die „höhere Phase“ der kommunistischen Zukunftsgesellschaft tun ließ, wo endlich Arbeit nicht mehr Mittel zum Leben, sondern „erstes Lebensbedürfnis“ sein werde. 

Reformistische Linke wie Jürgen Habermas als Gegner

Wenn Marxisten sich aber mit Kapitalisten in der gleichen affirmativen Beziehung zur Arbeit einig sind, dann stellt sich nicht mehr die Frage, ob das moderne Produktionsregime überhaupt zur Disposition steht. Es ergibt sich lediglich das Problem, wie es im System „gerechter“ zugehen, welche Symptome zu kurieren sind, ohne die Ursachen behandeln zu müssen. 

Für Marktapostel vom Schlage Friedrich August von Hayeks, aus dessen Schriften Kurz gern übelste Zeugnisse von dessen „latenter Menschenverachtung“ zitiert, sei das freilich überhaupt kein Problem, da sie weiterhin blind der „unsichtbaren Hand“ Adam Smiths vertrauten, die für „natürliche“ Gerechtigkeit sorge. Die reformistische Linke, deren Prototyp für Kurz Jürgen Habermas ist, habe hingegen lange in „demokratischer Einfalt und stiller Größe“ auf die „Humanisierung der Arbeitswelt“, auf die „Demokratisierung des Kapitalismus“ durch Entbindung emanzipatorischer Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft gehofft. 

Wie Kurz am Beispiel des „Historikerstreits“ demonstriert, sei die Linke unter der Ägide des „Staatsphilosophen Habermas“ dabei auf „das Gute“ der westlichen Marktwirtschaftsdemokratie derart fixiert gewesen, daß sie und nicht Ernst Nolte mit seinen Thesen zum nationalsozialistischen Völkermord an den Juden Europas „eine Art Schadensabwicklung“ betrieben habe. Denn zwecks „Reinhaltung“ der heroischen Fabel, die von Aufklärung, Fortschritt, Menschenrechten künde, habe man die „Exkommunikation“ des „absolut Bösen“ der NS-Diktatur und seiner „singulären“ Verbrechen aus der gesamten Modernisierungsgeschichte verfügt. Während Nolte das Deutschland Adolf Hitlers als kapitalistische Modernisierungsdiktatur dem Westen zurechnete – dies war für die Habermas-Linke das eigentliche Skandalon – und das „Böse“ nach Osten verlagerte, hin zum „asiatischen“ Bolschewismus. 

Zugleich habe der Berliner Geschichtsdenker damit „ein Stück weit“ den „Zivilisationsbruch Auschwitz“ in die „marktwirtschaftsdemokratische Familie eingemeindet“ und die „Zwangsherrschaft der abstrakten Arbeit“ als fundamentale Gemeinsamkeit zwischen westlicher Demokratie, Nationalsozialismus und Sowjetkommunismus exponiert. Der „Absturz in die Barbarei“ (Hans Mommsen) sei dann kein deutscher „Sonderweg“ mehr, sondern folge konsequent aus einem System, in dem der Mensch in dem Maß seine Rechte einbüße, wie er aufhöre, Wirtschaftssubjekt zu sein. 

Zwischen ökonomischer Gewalt in Demokratien und dem Terror in Diktaturen erkennt Kurz daher keinen prinzipiellen Unterschied an. Deshalb sei es nicht verwunderlich, daß die als „‘friedliche Marktwirtschaft’ maskierte Weltmaschine des Kapitals in ihren objektivierten Wirkungen mehr Menschen – und nicht zuletzt Kinderopfer – gefordert hat und weiterhin fordert als sämtliche äußeren Repressionen und Kriege aller modernen Diktaturen zusammengenommen“..“

Obwohl auch andere Linke wie der Sozialhistoriker Götz Aly mit vergleichbarer Konsequenz die NS-Vernichtungsmaschinerie ökonomistisch aus kapitalistischem Effizienzdenken erklären, erreicht nur Kurz mit dieser Argumentation die äußerste Linie der Fundamentalopposition, weil er Auschwitz auf das neuzeitliche Realitätsprinzip schlechthin zurückführt: Arbeit nicht um der gesellschaftlichen Bedürfnisbefriedigung willen, sondern zwecks Profitmaximierung als Selbstzweck. In dieser absurden Vermehrung des Geldreichtums um seiner selbst willen sieht Kurz den irrationalen Kern der vermeintlichen Rationalität der Moderne.

Was er diesem stahlharten Gehäuse der Zivilisation freilich als alternativen Gesellschaftsentwurf entgegensetzt, sind die aus Lebensreform und Kulturkritik um 1900 nur allzu vertrauten, zuletzt von Herbert Marcuse belebten neuromantischen Träume von „nicht entzweiter Existenz“. Und wie den Mittelalter-Schwärmern der zwanziger Jahre sind deshalb auch Kurz’ Sympathien für vormoderne Tauschökonomien nicht fremd. 

Gleichwohl ist Kurz auch von seinen härtesten Gegnern aus dem Lager des „Arbeiterbewegungsmarxismus“ nie abgesprochen worden, daß seine Radikalität der Kritik den weitesten Horizont eröffnet und schärfere Analysen der „One World des Geldes“ erlaubt, als dies mit dem Sektionsbesteck der etablierten „Progressiven“ oder gar dem der Liberalen und Konservativen je möglich gewesen wäre. Und zwar gerade wegen seiner kompromißlosen Negation des neuzeitlichen Verständnisses von Arbeit ausschließlich um der Gewinnsteigerung willen. 

Kurz’ scharfe Analyse der „One World des Geldes“

Aus ihr, insoweit Marx’ Akkumulationstheorie variierend, leitet er die system­immanente Vertiefung des Gegensatzes von Arm und Reich ab, wie sie sich heute in der globalisierten Marktwirtschaft mit ihrer „Herrschaft der Superreichen“ (Blätter für deutsche und internationale Politik 1/17; JF 9/17) in praller Obszönität offenbart. Da das Prinzip Profit nur bei Wachstum in Verbindung mit niedrigen Kosten für Arbeit und Produktionsmittel funktioniert, muß die „Geldmaschine“ aber ins Stottern kommen, wenn selbst mit expandierter Billiglohnökonomie die Wachstumsraten sinken und gleichzeitig die Ressourcenausbeutung im globalen Süden immense ökologische Kosten verursacht. Diese Thesen fallen bei einigen wenigen Linken-Politikern mit Lektüreerfahrung tatsächlich auf fruchtbare Erde, wie zum Beispiel Sahra Wagenknecht in ihrer jüngsten Publikation „Reichtum ohne Gier – Wie wir uns vor dem Kapitalismus retten“ (Frankfurt 2016) offenbarte (JF 34/16).

Das globalisierte System entgehe seinem Ende daher weder durch die mikrotechnologische Revolution noch durch neue Wachstumszonen in den „Schwellenländern“, noch durch ein Abbiegen ins „solare Zeitalter“. Stattdessen lasse die Vernichtung vormoderner Ökonomien in der Dritten Welt die ökologische Krise weiter eskalieren, heize mittelbar das Bevölkerungswachstum an und erhöhe schließlich den Migrationsdruck auf die Wohlstandsinseln des Nordens, um in den „Kollaps der Modernisierung“ zu münden.

Ob Robert Kurz‘ bestechende Zeitdiagnostik, die sich in vielem mit denen eines anderen Außenseiters, des Historikers Rolf Peter Sieferle (JF 4/17), berührt, jedoch stärkeren Widerhall findet, ist angesichts der von ihm beklagten Reduktion akademischer Philosophie auf „ethisches Facelifting der Marktwirtschaft“, epidemischer Theoriefeindschaft und dem nicht auf die systemkonforme Linke beschränkten Verzicht auf das Denken gesellschaftlicher Totalität eher zu bezweifeln. Es sei denn, das furiose Plädoyer des Heidelberger Historikers Klaus Kempter regt dazu an, mit Kurz Marx zu lesen, um die Geschichte des Weltkapitals jenseits der Verblendungszusammenhänge billiger Meistererzählungen à la „the West and the Rest“ zu begreifen (WerkstattGeschichte, 72-2016).