© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Zwischen allen Fronten
Die umfangreiche Edition der Briefe von 1952 bis 2011 der Schriftstellerin Christa Wolf
Jörg Bernhard Bilke

Am 1. Dezember 2016, genau zum fünften Todestag der 1929 in Landsberg an der Warthe geborenen DDR-Schriftstellerin Christa Wolf, die am 13. Dezember 2011 auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin-Mitte beigesetzt worden war, erschien ein umfangreicher Band von immerhin 1.040 Seiten (einschließlich Nachwort, Literatur- und Quellenverzeichnis sowie Personenregister) mit 483 Briefen Christa Wolfs, die freilich nur einen Bruchteil der rund 15.000 hinterlassenen Briefe ausmachen, die im Archiv der Berliner Akademie der Künste lagern.

Die breitgestreute Auswahl ihrer Briefpartner und ihre Bereitwilligkeit, jeden Brief, auch wenn es nur Anfragen von Lesern und Studenten waren, zu beantworten, sind erstaunlich. Vor allem war sie, darin ihrem Vorbild Anna Seghers vergleichbar, neugierig auf Menschen, auch wenn sie in anderen Gesellschaftssystemen lebten. Als sie am 17. April 1952 ihren ersten, in der Edition auch abgedruckten Brief abschickte, an die Redaktion der SED-Zeitung Neues Deutschland mit der Anrede „Werte Genossen“, und ihre Mitarbeit anbot, war sie 23 Jahre alt, seit 1949, dem DDR-Gründungsjahr, SED-Mitglied, studierte noch Germanistik bei Hans Mayer in Leipzig und hatte 1951 ihren Mitstudenten Gerhard Wolf geheiratet.

Die Rezension zu Emil Rudolf Greulichs Roman „Das geheime Tagebuch“ (1951), die dann am 20. Juli erscheinen sollte, hatte sie gleich mitgeschickt. Der Brief, eine bescheidene Anfrage, unterzeichnet „mit sozialistischem Gruß“ zeigt aber auch das Selbstbewußtsein der Leipziger Studentin: „Ich bin noch kein Literaturkritiker, sondern studiere noch und will erst einer werden.“ Im Jahr 1952 glaubte sie noch fest an die Zukunft des Sozialismus; über die möglichen Erschütterungen ihres Weltbilds durch die Aufstände des 17. Juni 1953 und vom Herbst 1956 in Ungarn liest man in diesem Band keine Zeile. Immerhin ließ der Roman „Der geteilte Himmel“ (1963) erkennen, daß sie nicht unberührt blieb von der Abriegelung der innerdeutschen Grenze.

Nachdem sie mehrere Romane geschrieben und den DDR-Nationalpreis empfangen hatte, wurde ihr Auftreten mutiger. Am 20. September 1970 beklagte sie sich bei der DDR-Zollverwaltung, daß ihr vom Luchterhand-Verlag in Neuwied/Rheinland zugeschickte Rezensionen ihres Buches „Nachdenken über Christa T.“ (1968/69) beschlagnahmt worden seien. Am 11. März 1975 schrieb sie zwei zornige Seiten an Politbüromitglied Kurt Hager, um sich über den intriganten Kulturfunktionär Alexander Abusch zu beschweren. 

Seit 1977 schrieb sie mehrmals an SED-Generalsekretär Erich Honecker und setzte sich für die Freilassung ver-hafteter Schriftsteller ein. In ihrem Brief vom 27. Januar 1988 machte sie ihn eindringlich darauf aufmerksam, daß nach der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration vom 17. Januar in Berlin-Friedrichsfelde über hundert Gegendemonstranten verhaftet worden wären.

Das üppige, mehr als fünfzig Seiten umfassende Verzeichnis ihrer Briefpartner zeigt dem Leser, daß sie auch gute Kontakte ins „kapitalistische Ausland“ hatte, besonders in die Bundesrepublik. Mit amerikanischen Germanisten, die sie zu Gastvorlesungen eingeladen hatten, stand sie in dauernder Korrespondenz, nachdem sie zuerst 1974 nach Ohio ans Oberlin College gereist war. 

Als privilegierter Reisekader treu zur DDR gestanden

Immer wieder liest man in ihren Briefen von Aufbrüchen in ferne Länder, die dem gewöhnlichen DDR-Bürger bis zum Rentenalter verschlossen waren. Sie war privilegierter „Reisekader“ in Literatur, der immer, trotz aller Anfechtungen, zu diesem Staat stand. Das konnte man schon 1963 ihrer „Republikflucht“-Erzählung „Der geteilte Himmel“ entnehmen wie ihrem wirklichkeitsfremden Aufruf „Für unser Land“ vom 28. November 1989.

Zweifellos hat Christa Wolf auch unter ihrem Staat gelitten! Als die Lyrikerin Sarah Kirsch im Sommer 1977 ausreisen durfte, schrieb sie an den Schriftstellerverband: „Meine Hoffnung ist erschöpft.“ Und nach Paris berichtete sie 1979 aus einem Hotel in Frankfurt am Main: „Hier umgibt mich eine schneidende Fremdheit.“ Mit dem russischen Germanisten Lew Kopelew, den sie 1965 bei Anna Seghers kennengelernt hatte, korrespondierte sie auch noch, nach-dem er 1981 ausgebürgert worden war. Neun Seiten schrieb sie am 17. März 1984 nach Köln, solche Briefe aber verschickte sie aus West-Berlin wie die an ihren akademischen Lehrer Hans Mayer, der sie noch 1963, im Jahr seines Weggangs aus Leipzig, zu einer Lesung aus ihrem Roman „Der geteilte Himmel“ an die Karl-Marx-Universität eingeladen hatte.

Der Bearbeiterin dieses Briefbandes, Sabine Wolf – nicht verwandt mit der Literatin–, muß ein kräftiges Lob gespendet werden. Was sie hier an Fußnoten und Anmerkungen erstellt hat, ist eine DDR-Literaturgeschichte in nuce über fast sechzig Jahre. Auszuschöpfen ist das in einer Rezension kaum. Dennoch bleiben manche Fragen ungeklärt, beispielsweise das Verhältnis zu Thomas Nicolaou, dem griechischen Emigranten in Ost-Berlin, der, wie 1989/90 bekannt wurde, als IM „Anton“ für die „Staatssicherheit“ gearbeitet und auch Christa Wolf überwacht hat; ihm schrieb sie lange, vertrauensselige Briefe.






Dr. Jörg Bernhard Bilke war von 1983 bis 2000 Chefredakteur der „Kulturpolitischen Korrespondenz“ der Stiftung Ostdeutscher Kulturrat in Bonn.

Sabine Wolf (Hrsg.): Christa Wolf. Man steht sehr bequem zwischen allen Fronten. Briefe 1952–2011. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2016, gebunden, 1.040 Seiten, 38 Euro