© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 11/17 / 10. März 2017

Europa fehlen die Eier
Stierhoden als ideale Mahlzeit für Geringverdiener und Zecher
Verena Inauen

Haut abziehen, in Scheiben schneiden, lange in viel Bier marinieren und dann in Paniermehl herausbacken. Ein nussiger Geschmack, sehr fein im Biß. Ein Rezept, das sich nach Gourmetküche anhört, bringt aber nicht nur die C-Promis des „Dschungelcamps“ zum Kreischen, sondern läßt auch männliche Fleischliebhaber schwer schlucken. Nicht etwa wegen der Konsistenz der Stierhoden – die als sehr fein beschrieben wird –, sondern wahrscheinlich vielmehr aufgrund der Tatsache, daß es sich dabei um die Zeugungsorgane des vor Testosteron strotzenden Tieres handelt.

Genau aus diesem Grund sind die im Englischen als „testicles“ bezeichneten Hoden aber im US-Bundesstaat Montana ein richtiger Verkaufsschlager. 

Ob nun aus hartnäckigem Aberglauben oder einfach liebgewonnener Tradition, glauben die Bewohner des abgeschiedenen Clintons daran, daß ihre eigene Fruchtbarkeit durch den Verzehr dieser Speise gesteigert wird. Beim jährlichen „Eat the Ball“-Fest werden die zu den Innereien zählenden primären Geschlechtsmerkmale darum in allen nur erdenklichen Formen zubereitet: gegrillt, gekocht, geschmort oder gebraten. 

100 Gramm Männlichkeit in Butter gebraten

Was heute in den Vereinigten Staaten als „Austern der Rocky Mountains“ bezeichnet wird, war auch in Europa viele Jahrhunderte eine Rarität und fiel dem Schlachter als besonderes Stück Fleisch zu. Die rund 100 Gramm schweren Zeugungsorgane fanden auf deutschen Speisekarten genauso Platz wie Kutteln, Nieren, Herz oder Hirn. Heute scheinen aber nur noch einige wenige Köche in östlichen Ländern ausreichend Eier zu haben und sich an die empfindlichen Teile heranzuwagen. Zubereitet mit Butter und einem Zweig Thymian oder doch gesalzen und paniert wie ein knuspriges Schnitzel, werden auch die weniger ansehnlichen Hoden schmackhaft in Szene gesetzt. 

Wie betroffen die rumänischen Kellnerinnen sind, wenn sie die Bestellung „testiculele“ an ihre Kollegen weitergeben, wurde zwar noch in keiner Aufdeckersendung ausreichend erörtert, vom Speiseplan ist das Gericht dort aber nicht wegzudenken.

Ganz anders sieht es jedoch in den Küchen von England bis Ungarn aus. Während bis vor 200 Jahren die verschiedensten länderspezifischen Zubereitungsarten der Lamm-, Stier- oder sogar Hahnhoden bekannt waren, brutzeln heute nur noch vereinzelt euphemistisch umschriebene „spanische Nieren“ in den Bratpfannen der Stierkampfregionen.

Im von zunehmender Industrialisierung und Fertiggerichten geprägten Deutschland ist das gute Stück des Rindes zwar gemäß der Fleisch-Hygiene-Ordnung als Lebensmittel zum Verzehr zugelassen, das am Sexualakt beteiligte Gehänge meiden Herr und Frau Mustermann aber mit pikiertem Blick.

Dabei ist das gewagte Mahl vor allem perfekt für die knappe Geldbörse von Geringverdienern. Innereien, insbesondere die Hoden, kosten sehr viel weniger als die edlen Filetstücke und bieten zudem noch wesentlich mehr Nährstoffe. Zink, Eisen und Vitamin B helfen zudem, den Restalkohol feierwütiger Zecher abzubauen. Weil die Tiere meistens ohnehin kastriert werden, müssen sie dafür nicht einmal sterben – was die Bedenken von mitfühlenden Tierliebhabern allerdings nur teilweise zerstreuen dürfte.

Wer sich selber nicht von den „Cojones“, „Stones“ oder „Rognons blancs“ überzeugen will, kann immerhin seinen vierbeinigen Gefährten testen lassen. Hunde und Katzen genießen die getrockneten Testosteronspeicher ihrer tierischen Genossen ohne Bedenken.