© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Mit einem Schutzgeist in die Unterwelt
Musiktheater: Christina Pluhar und L’Arpeggiata führen den Orpheus-Mythos aus europäischer Enge hinaus ins Weltoffene hinein
Jens Knorr

Im Anfang sind Rhythmen und Klänge von verschiedenem Schlagwerk, das in der traditionellen wie populären Musik Lateinamerikas verwandt wird. Darein fällt kreischend eine Motorsäge, und in der Dunkelheit bricht ein Stamm. Der weichende Morgennebel gibt dem Blick den gefällten Baum frei, einen Kapokbaum, und Männer in weißen Schutzanzügen, die den Baum entrinden. Der Bühnenboden vor dem Baum: ein Fluß, auf seinem Grund gehen Schildkröten.

Der gefällte Baum ist der Weltenkörper, Figuren und Darsteller sein Leben. Die Schildkröten können die Argo für Odysseus und seine Gefährten sein, aber auch die Gefährten selbst, denen hilfreiche Geister die Ohren stopften, damit sie dem Gesang der Sirenen nicht erliegen. Einst fertigte Apollo aus dem Panzer einer Schildkröte den Korpus der Lyra. Die weiß einer der Argonauten zu spielen wie niemand sonst, Orfeo, dessen Spiel das Meer besänftigt und die Wut der Sirenen besiegt.

Ein anderer der Argonauten kehrt von dem Raubzug nicht mehr zurück, Butes, der dem Gesang der Sirenen erliegt oder nicht erliegt, von Aphrodite auf eine andere Insel gerettet wird oder sich selbst in eine andere Existenz rettet, in einen Nahual, Orfeos Begleiter, Schutzgeist seines Schutzbefohlenen, dessen Wesen die Metamorphose ist, Tier und Pflanze, Mensch und Geist, Frau und Mann, mit dem er stürbe, wenn dieser stürbe.

Das Musiktheater von Christina Pluhar schöpft aus tiefem Brunnen, auf dessen Grund griechische und präkolumbianische Mythologie zusammenstimmen. „Aller Gestaltungstrieb des Volkes geht im Mythus (…) dahin“, wissen wir von Richard Wagner, „den weitesten Zusammenhang der mannigfaltigsten Erscheinungen in gedrängtester Gestalt sich zu versinnbildlichen.“ In die Bilder einer vor aller Geschichte liegenden – mythischen – Vorzeit sind Erfahrungen, Erinnerungen und rückprojizierte Hoffnungen des Volkes eingespeist. Wenn Geschichte ihren Anfang im Mythos nimmt, dann ist Mythos nicht nur Grund aller, sondern selbst Geschichte und die Anstrengung des Mythos, seine jeweilige Geschichte zu erzählen. Das leistet „Orfeo chamán“, Christina Pluhars Arbeit für das Teatro Mayor Julio Mario Santo Domingo, Bogotá.

Orfeo will Euridice ins Leben zurückholen

Von dem frühen Vorschlag der beiden kolumbianisch-schweizerischen Regisseure Heidi und Rolf Abderhalden, Monteverdis Favola in Musica „L’Orfeo“, die den vermeintlichen Beginn der Gattungsgeschichte markiert, auf die Bühne zu bringen, hatten sich die Künstler schnell verabschiedet. Sie entwickelten eine neue Handlung, auf die der kolumbianische Dichter Hugo Chaparro Valderrama das Stück „El jaguar de Orfeo“ schrieb. Das Stück arbeiteten sie zu dem Libretto um, das Pluhar als Grundlage ihrer Komposition nahm.

Die französischen Filmemacher Sonia Paramo und Patrick Lauze von „Les Films Figures Libres“ haben die Uraufführungs-Vorstellungen vom November 2014 dokumentiert. Der Mitschnitt wurde zusammen mit einer Studiofassung von Auszügen der Oper, die ein Jahr später in Paris aufgenommen wurde, Ende vorigen Jahres veröffentlicht. Die Pariser Fassung klingt musikalisch noch reflektierter, kunstvoller, vielleicht auch künstlicher, die Uraufführung erscheint intuitiver, direkter, theatraler.

Orfeo besiegt die Sirenen, der Gesang Euridices besiegt Orfeo. Sein Bruder Aristeo lockt Euridice von ihrer Hochzeit mit Orfeo fort, um sie zu vergewaltigen. Sie flieht und stirbt an einem Schlangenbiß. Daraufhin sterben Aristeos Bienen. Orfeo und sein Nahual treten die Reise in die Unterwelt an, um Euridice ins Leben zurückzuholen. Aristeo tritt die Reise zu Proteo an, um von dem Meeresalten und Gestaltenwandler zu erfahren, welches Opfer ihm seine Bienen zurückbringen könne.

Orfeos Gang in die Unterwelt als Schamanenreise in Begleitung seines Schutzgeistes, orientiert an Ayahuasca- und Yagé-Ritualen, Apollons Sohn als Orfeos Bruder und beide, Brüder und zugleich Konkurrenten, nicht nur als personifizierte Spaltung der Welt in Natur und Kultur, Magie und Ratio, sondern als Abspaltungen von der Frau selbst – Pluhars Arbeit am Mythos führt ihn aus europäischer Enge, in die ihn psychoanalytische Zurichtungen aus dem letzten Jahrhundert hineingezwungen haben, hinaus und ins Weltoffene hinein. Die Schuld der Arbeiter des Wortes begleichen die Arbeiter der Musik.

Musik verschiedener Kulturen zusammengefügt

Pluhar versteht Komponieren, „componere“, in seiner ursprünglichen Bedeutung als Zusammenfügen. Für „Orfeo Chamán“ hat Pluhar eigens komponierte und Stücke mit melodischem oder harmonischem Material aus der Barockzeit und der traditionellen Musik verschiedener Kulturen zu einem Pasticcio, einer „Flickoper“, verarbeitet und arrangiert. Den venezolanischen Tanz Pajarillo kennen wir bereits aus Pluhars Südamerika-Projekt (JF 27/12), dort wie hier von Luciana Mancini verkörpert. Aznars und Yupanquis „Romance de la luna tucumana“ kennen wir von Mercedes Sosa gesungen, aber nun lernen wir die Romanze in einem Arrangement von Nahuel Pennisi neu kennen, Pennisi mit Mancini duettierend. Überhaupt Pennisi!

Sänger und Darsteller sind aus Arbeitszusammenhängen mit Pluhar und dem Ensemble L’Arpeggiata geläufig: die chilenisch-schwedische Mezzosopranistin Luciana Mancini als Euridice, der italienische Sänger und Tänzer Vincenzo Capezutto mit seiner charakteristischen, fremdartig changierenden Counterstimme als Butes und als der Nahual, der Tenor Paul Phoenix, lange Jahre Mitglied der King’s Singers, als Aristeo. Für die Pariser Fassung übernahm Emiliano Gonzalez Toro die Gesänge des Aristeo. Aber Pennisi!

Mit Nahuel Pennisi steht das Projekt und kann nicht fallen. Der argentinische Sänger und Gitarrist, 1990 in Buenos Aires geboren und blind von Geburt, hat sich die Welt durch Musik erschlossen, ein idealer Orfeo also. Seine Stimme, die Stimme des Volkssängers, sein Spiel, das Spiel eines Straßenmusikanten, zu der Musik, die ihm Pluhar auf den Leib und nicht nur auf die Stimme und in die Hände geschrieben hat, sie dringen in die Tiefe des Herzens. Pennisi singt, wie er muß, und wie er muß, so kann er’s. In den Gesängen dieses Orfeo Chamán wird Ereignis, was die Rede von der „orphischen Betroffenheit“ meint.

Die Regisseure Heidi und Rolf Abderhalden, und das dritte Geschwister Elizabeth Abderhalden für die Kostüme, verstehen Musiktheater als Ensemble aller Schwesterkünste. Sie haben für Musik und Geschichte szenische Metaphern gefunden, die dem magischen Realismus Lateinamerikas, wie er uns durch den größten aller großen Kolumbianer, „Gabo“, vertraut wurde, verpflichtet sind. Der Gestus der Spieler, Sänger und Tänzer ist weniger einfühlend als vielmehr zeigend, demonstrierend. Und der Protagonist ist dergestalt in die Handlung integriert, daß sich die Frage nach den eingeschränkten Möglichkeiten eines blinden Darstellers auf der Szene nicht stellt.

Auch wenn dem Zuschauer das Geschehen einige wenige Male durchaus kunstgewerblich anmutet, erscheint ihm das Musiktheater Pluhars und der Abderhaldens keineswegs als eine Variante aufgewärmten Eine-Welt-Musik-Kitsches, jener vorgeblichen kulturellen Aneignung, die in Wahrheit auf Enteignung hinausläuft. Kulturlosigkeit ist grenzenlos, Kulturen haben Grenzen. Die eine Kultur in der anderen aufzufinden, die fremde in der eigenen auszuhalten, schafft diesseits von Vermischungs- wie Abgrenzungsszenarien erst Identitäten für all jene, die ihrer noch bedürfen. In diesem Sinne heißt Weltmusik, keine Stimme in dem Stimmkonzert verloren zu geben und jede eine in der andern hörbar zu machen wie die andere in der einen. Theorbe und Schamanentrommel gehen zusammen.

Orfeo hat Euridice verloren, Aristeo aus den Kadavern der Opfertiere neue Bienen gewonnen. Der Körper des Sängers liegt von den Bacchantinnen zerstückelt, während sein Kopf, im Fluß mit der Strömung treibend, weiter, immer weiter noch singt: „Es gibt kein Vorher, kein Nachher, kein Jetzt, nur die Zeit. Wir sind Vergangenheit, Gegenwart und vielleicht Ewigkeit.“ Wäre die Hoffnung aus der Büchse der Pandora nicht entwichen, wir wären ohne Musik. Im Anfang war Musik.

Orfeo chamán Christina Pluhar, L‘Arpeggiata CD+DVD, Erato 2016  www.arpeggiata.com