© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Europa geht am übertriebenen Moralismus zugrunde
Der Lüneburger Soziologe Gunter Runkel fordert eine völlige Neustrukturierung der Europäischen Union
Peter Seidel

Bereits vor der Brexit-Entscheidung der Briten hat die Öffnung der Grenzen Europas für die Masseneinwanderung aus Arabien und Afrika im letzten Jahr die Europadebatte weiter polarisiert. Während dies im linken Spektrum zur verschärften Forderung nach beschleunigter Schaffung von „Vereinigten Staaten von Europa“ führte, wie etwa bei Hans Kundnani, fürchten andere aus konservativer Sicht, daß ein „übertriebener Moralismus Europa in den Untergang schickt“. 

Dies resümiert Gunter Runkel, emeritierter Professor für Soziologie an der Universität Lüneburg, in seinem Buch „Die Zukunft Europas. Der Untergang Europas“, erschienen im renommierten Nomos-Verlag. Dabei wird deutlich, daß die Öffnung der Grenzen Auslöser für dieses Verdikt wurde. Im Mittelpunkt der komprimierten Schrift stehen denn auch diese Zuwanderung (Kapitel 4), die „Euro-Rettungspolitik“ im Kontext der Griechenlandkrise (Kapitel 3) sowie, etwas verloren angehängt, die Gender-Politik in Europa (Kapitel 5), offenbar ein Spezialgebiet des Autors, auch sprachlich eher ein Fremdkörper im Text. 

Alles für ein multikulturelles europäisches Staatsvolk

Seine Hauptthese versucht der Autor gleich zu Beginn durch Bezug auf seinen berühmten Vorgänger und Fachkollegen Max Weber und dessen Unterscheidung von Gesinnungs- und Verantwortungsethik zu belegen. Dies bleibt auf den wenigen dafür eingeräumten Seiten allerdings recht dünn und erschließt dem Leser nicht den Alarmismus, der das Buch vielleicht nicht zu Unrecht in weiten Teilen durchzieht. Weitaus tragfähiger erscheint als Begründung allerdings weniger eine ausufernde Gesinnungsethik, sondern der Versuch wichtiger Teile vor allem der westeuropäischen Eliten, eine multikulturelle Bevölkerung in Europa als neue Basis für ein zu schaffendes europäisches Staatsvolk und damit für Vereinigte Staaten von Europa zu schaffen. Öffentlichkeitswirksam abgesichert wird dieser Plan durch das Propagieren politischer Romantik für ihre Anhänger. Unterschiedliche Interessen erklären somit die heutige Polarisierung weit besser als unterschiedliche Moralitäten, ein Ansatz, der offenbar zu kurz greift. Mit „Moral“ hat das Ganze oft nur noch in der Selbstwahrnehmung zu tun. „Willkommenskultur“ also als Mittel zum Zweck.

Das Büchlein weist deutliche Aussagen zu europäischen Fehlentwicklungen auf, die es verdient haben herausgestellt zu werden. Dies gilt vor allem für die beiden Schlußkapitel: Hier spricht der Autor von einer „Aushöhlung der Demokratie“, dem Aufscheinen eines „neuen, postdemokratischen Obrigkeitsstaates“, einer „eigentümlichen Symbiose von Politik- und Finanzmarktakteuren“. Runkels Ziel: „Die schrittweise Einführung einer ‘Europäischen Konföderation’ nach dem Schweizer Vorbild“ anstelle der „von den jetzigen Brüsseler Eliten geplanten stärkeren politischen Union, die in einem Einheitsstaat nach französischem Muster enden soll“. 

Runkel will ein „Europa der Vaterländer“. Das umfaßt neue Vorschläge, auch wenn die Grundidee selbst älter ist. Wie will er dies erreichen? Dafür liefert er „Eckpunkte“, die sich insbesondere mit einer Euro-Reform beispielsweise durch die Einführung von Parallelwährungen für schwache Euroländer oder dem (auch zeitweiligen) Ausstieg aus der gegenwärtigen Form der Währungsunion beschäftigen. Wie das geschehen soll, bleibt offen, zumal er zu Recht darauf verweist, daß gerade die Politik der deutschen Bundesregierung in der Eurofrage darin bestehe, „Stück für Stück, wenn auch mit gespieltem Widerstreben, immer weiter nachzugeben“: auf dem Weg der Daueralimentierung der Defizitländer.

Das Buch ist ein Schnellschuß aus aktuellem Anlaß, was man Konzeption und einzelnen Teilen durchaus anmerkt. Das mindert nicht seine Berechtigung, wohl aber seine Reichweite, zumal der Autor seine Empörung über so manche Entwicklung nicht verhehlt. Die Berücksichtigung alternativer Konzepte und ihre überblicksartige Vorstellung dienen ihm als Folie für seine Thesen, einer Streitschrift ähnlich, beispielsweise bei der Vorstellung parteipolitischer Positionen, wobei – wenig überraschend – die AfD vergleichsweise gut wegkommt. Das Buch kann als Einführung in die aktuelle europapolitische Thematik genutzt werden, denn es ist leicht verständlich, anders als manche fachwissenschaftliche Ausarbeitung gerade etwa zum Demokratieproblem der EU. 

Gunter Runkel: Die Zukunft Europas. Der Untergang Europas. Nomos Verlag, Baden-Baden 2016, broschiert, 148 Seiten, 29 Euro