© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 12/17 / 17. März 2017

Wenn Darwin die Heilige Schrift liest
Die Autoren Carel van Schaik und Kai Michel deuten die Bibel als Paradebeispiel für kulturelle Evolution
Felix Dirsch

Nicht nur die Bibel selbst ist seit vielen Generationen ein Bestseller; auch einige Interpretationen der letzten Jahrzehnte brachten es zu großen Erfolgen. Werner Kellers „Und die Bibel hat doch recht“ gilt als eines der meistverkauften Sachbücher aller Zeiten, Israel Finkelstein und Neil A. Silberman haben in ihrer archäologischen Spurensuche „Keine Posaunen vor Jericho“ ebenfalls ein Millionenpublikum gefunden.

An derartige Erfolge scheint Carel van Schaiks und Kai Michels viel diskutierte Publikation anknüpfen zu können. Die beiden agnostisch gesinnten Autoren wenden einen Ansatz an, der naturalistisch-evolutionistische Erklärungsversuche in den Mittelpunkt stellt. Auf diese Weise wollen sie das christliche und jüdische Grundlagenwerk als ein wichtiges Stück menschlicher Kulturgeschichte herausstellen. Die Bibel soll auf diese Weise einem ausschließlich religiösen Blickwinkel entzogen und historisiert werden.

Die Abhandlung ist in fünf Hauptteile gegliedert: Der Bogen wird von der Genesis-Geschichte über den Exodus und die Könige beziehungsweise Propheten bis zu den Psalmen geschlagen, der letzte Abschnitt beschäftigt sich mit dem Neuen Testament.

Selbst eine oberflächliche Sichtweise zeigt, daß es sich dabei um ein fruchtbares Unterfangen handelt. Eine wesentliche Schwelle der Menschheitsgeschichte wird in den Texten, die in knapp einem Jahrtausend verfaßt wurden, immer wieder traktiert: der Übergang vom Jäger und Sammler zum seßhaften Bewohner. Er wirft zahllose Probleme auf, die bewältigt werden wollen. Die Genesis-Schrift spiegelt die damit verbundenen Mühen wider. Durch das Zusammenleben auf engem Raum nehmen die Konflikte zu, was unter anderem die Episode von Kain und Abel ausdrückt. Freilich ist umstritten – was bei den Verfassern nicht klar genug thematisiert wird – wie weit das Erinnerungsvermögen zurückreicht; denn die Seßhaftwerdung im Fruchtbaren Halbmond wird üblicherweise auf mehrere Jahrtausende zurückdatiert, während die biblischen Erzählungen, die dieses Ereignis angeblich reflektieren, wohl innerhalb des ersten vorchristlichen Jahrtausends niedergeschrieben wurden. Außerdem ist fraglich, ob die Einblicke ins Paradies einen Bezug zum Dasein des Menschen vor der so genannten neolithischen Revolution aufweisen. Insofern wirkt einiges bei van Schaik und Michel konstruiert und manchmal weit hergeholt.

Für einen evolutionstheoretischen Ansatz ist es naheliegend zu argumentieren, daß der Glaube Israels und später der Christen einen Überlebensvorteil mit sich brachte. Die Umschmelzung der alten Stammeskulte zum Monotheismus ermöglichte es, die Unterlegenheit gegenüber anderen Völkern zu verarbeiten. Das oft erfahrene Leid wird nicht als Niederlage des eigenen Gottes, sondern als dessen Werk interpretiert. Er will das eigene Volk für dessen Unrecht strafen. Das hilft bei der Bewältigung zahlreicher Alltagsübel.

Bibel reflektiert zentrale Schritte der Menschheit

Ein weiterer Schlüsselbegriff ist „Mismatch“. Immer wieder zeigt sich über sehr große Zeiträume hinweg eine Kluft zwischen der psychischen und physischen Ausstattung der Menschen unter neuen Lebensbedingungen. Das gilt noch in der unmittelbaren Gegenwart. Sigmund Freud spricht vom „Unbehagen an der Kultur“. Die Bibel schildert nach Meinung der Autoren den schmerzhaften Anpassungsprozeß an die Bedingungen des Daseins. Gott hilft, Fehlschläge zu verkraften. Der Kultur kommt dabei die Funktion eines Schutzwalls gegen allerlei Unbill zu.

Van Schaik und Michel legen glaubhaft dar, daß man auch auf außertheologischer Basis einen Zugang zum „Buch der Bücher“ finden kann. Sie arbeiten die Bibel als Dokument heraus, das zentrale Schritte der Menschheitsentwicklung reflektiert, in einer Gegend, die für damalige Zeiten hochentwickelt war. Diese Region wird als repräsentativ zur Beleuchtung kulturgeschichtlicher und -evolutiver Mechanismen betrachtet. Nachdem es freilich vorrangig um historisch-anthropologische Zusammenhänge geht, ist fraglich, ob man in diesem Kontext auf genetische Selektionsprinzipien zurückgreifen muß, die in einem anderen zeitlichen Rahmen erforscht werden. Die Idee, Darwin und die Bibel miteinander zu kombinieren, ist originell, aber die Umsetzung ist nicht vollständig geglückt. Wenngleich die Autoren keinen Bezug zum religiösen Glauben finden, haben sie doch die Heilige Schrift von Juden und Christen aufgewertet.

Carel van Schaik, Kai Michel: Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät. Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, gebunden, 569 Seiten, 24,95 Euro