© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Grüße aus Wien
Ein Hauch von Glück
Michael Link

Noch rasch in der Trafik eine Tageszeitung erstanden, laufe ich die Rolltreppe hinunter zur U-Bahn. „10 Minuten“ lese ich ungläubig auf der Anzeigentafel über dem stark frequentierten Bahnsteig. Und das um 7.30 Uhr, mitten in der Stoßzeit. Sogleich versuche ich mir die Zeit mit der Zeitungslektüre zu vertreiben. Die Überschrift „Wien erhöht Strafen – und massiver Anstieg von Strafen und Anzeigen“ sticht mir ins Auge. 

Oh je, der Fahrschein! Deswegen war ich doch in der Trafik. Nach gefühlten zehn Minuten blicke ich wieder zur Anzeigentafel. Acht Minuten. Mir reicht es.

Ich falte die Zeitung zusammen und zwänge mich vor bis zur Rolltreppe. Die beiden Stationen bin ich zu Fuß bestimmt schneller unterwegs. Ich genieße die Bewegungsfreiheit ebenso wie den Blick zum strahlend blauen Himmel. Doch noch ehe sich bei mir ein Gefühl des Glücks einstellt, trete ich in dasselbe.

Muß die Stadt vielleicht gar von ihrem Prinzip „Beraten statt strafen“ abrücken?

Mit nicht druckreifen Worten äußere ich meinen Unmut. „Sackerl für’s Gackerl“, steht doch überall. Eine Mißachtung dieser Vorschrift kann das Herrchen oder Frauchen statt bisher 36 künftig 50 Euro kosten, erinnere ich mich noch an die kurze Zeitungslektüre. Energisch reibe ich meine Schuhsohle immer wieder gegen den schmalen Rasenstreifen neben dem Gehsteig. Das soll eine der saubersten Städte Europas sein?

„Schönen Tag!“ ruft mir wie aus dem Nichts ein grinsender Mann auf einem Scooter-Roller zu. Mochte er seine Schadenfreude nicht verbergen können, doch mit seinem Transportmittel hat er mich auf eine Idee gebracht.

Als ich mir einige Stunden später auf dem Heimweg doch die Fahrt mit der U-Bahn gönne, setze ich die Zeitungslektüre fort. Erstaunt lese ich, daß im Vorjahr die Zahl der Strafanzeigen in Wien  um 20 Prozent gestiegen ist. Ich frage mich: Woher kommt dieser plötzliche Anstieg von Disziplinlosigkeit? Muß die Stadt, die sich selbst gern das Etikett Toleranz auf ihre Fahnen heftet, von ihrem Prinzip „Beraten statt strafen“ abrücken? Bin schon gespannt auf das Ergebnis der neuen Mercer-Studie, die Wien früher Spitzenplätze in Sachen Lebensqualität zuwies. 

Vorher aber werde ich meine  alten Treter entsorgen und mein Mißgeschick als Anlaß für den Erwerb neuer, orthopädisch vertretbarer Schuhe für meinen ersten Scooter betrachten. Dies könnte wenigstens einem Wiener mehr Lebensqualität – und einen Hauch Glück – bringen.