© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Pankraz,
Eva Menasse und die Sexualität der Tiere

Wohl das interessanteste (und trotzdem enttäuschendste) neue Buch auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse ist, findet Pankraz, Eva Menasses Band „Tiere für Fortgeschrittene“ (Kiepenheuer & Witsch, Köln 2017, geb., 320 S., 20 Euro). Er besteht aus vielen kleinen Erzählungen über Tiere aller möglichen Gattungen, die höchst merkwürdige Lebenspraktiken preisgeben: Raupen etwa, die sich ihr eigenes Grab schaufeln, Enten, die noch im Schlaf nach Freßfeinden Ausschau halten, Schafe, die ihre Wolle von selbst abwerfen, und, und, und.

Die Stücke sind fein erzählt und lösen beim Leser (bei jedem Leser, würde Pankraz vermuten) tiefes Erstaunen aus, solide Erkenntnis mischt sich entzückend mit veritablen Humor-Abenteuern und macht die Lektüre zum Genuß. Aber gerade „fortgeschrittene“ Tierfreunde geraten bald in Enttäuschung, Sie müssen registrieren, daß Menasse ausgerechnet die deftigsten und abenteuerlichsten Verhaltensweisen, die Tiere an den Tag legen, weitgehend ausklammert, nämlich ihre unzähligen Tricks und Strategien zur Erlangung sexueller Dominanz.

Sexualität im Tierreich ist nun freilich ein Thema, das nicht den geringsten Antrieb  zur Entfaltung von literarischer Anmut à la Eva Menasse liefert; man kann es – um es erträglich zu halten – allenfalls im Stil eines nüchternen Kriminalberichts abhandeln. Denn Sexualität im Tierreich – das ist in der Wirklichkeit des Lebens eine einzige wüste Räuberpistole und schlimmer noch: eine einzige Horrorwelt wie aus Sodom und Gomorrha.


Da ist zum Beispiel das grauenhafte Sexualleben der männlichen Bettwanzen, die mit ihren riesigen, schwertähnlichen Penissen einfach wahllos in die Körper der Artgenossen hineinstechen, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob es sich um Männchen oder Weibchen handelt. Der Samen gerät derart zunächst einmal in die Blutbahn der anderen und wird dort, falls es sich um Weibchen handelt, so lange gespeichert, bis diese sich durch eine Blutmahlzeit an Mensch oder Fledermaus hinreichend gestärkt fühlen, um die Spermien zur Befruchtung der Eier weiterzuleiten.

Groteske Verhaltensweisen auch in der Welt der Milben. Bei der Art Adactylidium legt die Mutter ihre Eier in den eigenen Körper. Die Jungen schlüpfen im Mutterleib und fressen die Alte von innen her auf. Währenddessen begatten die Brüder die Schwestern; anschließend sterben die Männchen schon wieder, ohne je das Licht der Welt erblickt zu haben. Die herangewachsenen, begatteten Weibchen jedoch schneiden den Mutterleib auf und krabbeln ohne das geringste Mitleid davon. 

Noch verquerer geht es bei der Art Histiostoma murchei zu. Hier legen die Jungfrauen Eier, aus denen ausschließlich Männchen schlüpfen. Diese Männchen begatten sofort ihre Mutter und sterben dann. Das nun nicht mehr ganz so jungfräuliche Weibchen legt wiederum Eier, aus denen diesmal lauter Jungfrauen schlüpfen. Der Sohn ist hier also der Ehemann seiner Mutter und der Vater seiner Schwestern; die Schwester ist die Tochter ihres Bruders und die Ehefrau ihres Sohnes. Ödipus, hilf!

Inzest, Vergewaltigung, Vielmännerei und Vielweiberei, Ehebruch, Mutter- und Babymord, Kannibalismus, Abtreibung, Transvestitentum und Geschlechtertausch, Leihmütter, Samenbanken und „sperm sharing“, Kinder- und Samenraub, Heiratsschwindelei und Vorspiegelung falscher Tatsachen – dies alles und noch viel mehr ist in der Sexualität der Tiere an der Tagesordnung.

Bei Hakenwürmern gibt es sogar „negative homosexuelle Vergewaltigung“: Die schwächeren Geschlechtsrivalen werden von den stärkeren mit Propfen aus organischer Masse regelrecht dicht gemacht. Wie gesagt, kein Trick, wirklich kein einziger, ist den biologischen Individuen zu mies, wenn sie damit nur ans Ziel ihrer sexuellen Triebe kommen und die eigenen Gene weitergeben können.


Skorpionfliegen und Seemöwen klauen sich gegenseitig die Hochzeitsgeschenke. Strumpfbandnattermännchen führen sich wie Weibchen auf, um den Rivalen zur sofortigen, blinden Abgabe seines Samenpakets zu verlocken und ihn so seine Gene nutzlos verschwenden zu lassen. Beim Nestanlegen unterlegene Sonnenbarschmännchen tarnen sich ebenfalls als Weibchen, pirschen sich in dieser Tarnung heran, wenn der Sieger gerade seine Spermawolke über seinem Nest ausstößt, und stoßen selbst ihre eigene Spermawolke schnell dazu, wodurch nun die Eier nur noch teilweise vom Sieger befruchtet werden.

Und wozu das ganze Tohuwabohu? Ginge es ausschließlich um den „Egoismus der Gene“, wie viele Forscher meinen, so könnte es doch bei der Jungfernzeugung bleiben, beim Klonen, bei dem sich ein Individuum schlicht dupliziert, um ein genau identisches Genom an den Nachkommen weiterzureichen. Aber die Jungfernzeugung macht eine Art anfällig gegen Parasiten und Umweltänderungen. Sexualität ist notwendig, um beim Kampf ums Dasein nicht plötzlich ins Aus zu geraten. Sexualität erhöht die genetische Variabilität. 

Pankraz muß es sich hier versagen, all das auf die Sexualität des Menschen anzuwenden. Klar ist jedenfalls: Nicht die sexuellen Tricks und Gemeinheiten als solche sind für die Tiere ausschlaggebend, sondern einzig ihr Zweck: die stabile und möglichst zahlreiche Fortpflanzung der eigenen Art. Genau das unterscheidet sie vom „westlichen“ Menschen unserer Tage, der sichtlich dabei ist, Sexpraktiken und Artensicherung konsequent voneinander abzutrennen, dem es nur noch um die Sexpraktiken geht, welche ihm gar nicht „queer“ oder „transgender“ genug  sein können.

Ein Wust von einschlägigen Romanen und Sachbüchern ist ein unübersehbares Kennzeichen der Leipziger Messe. Viele ihrer Autoren begehren, im Namen der „Liebe“ zu sprechen – und meinen doch nur Egoismus. Das Buch von Eva Menasse bildet die große Ausnahme. Sein anmutiger, echt „fortgeschrittener“ Blick auf die Tiere kann vielen Lesern Herz und Verstand öffnen.