© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 13/17 / 24. März 2017

Er sollte die Ewigkeit vermessen
Europäische Uhrmacher reisen nach China: Christoph Ransmayr widmet sich in seinem Roman „Cox“ dem Thema Zeit
Felix Dirsch

Die Zeit gehört seit jeher zu den anspruchsvollsten philosophischen und literarischen Sujets überhaupt, von Aurelius Augustinus bis zu Albert Einstein und Martin Heidegger. Ein auch als Kinoheld berühmt gewordener Physiker wie Stephen Hawking wird ob seiner „Kurzen Geschichte der Zeit“ seit fast drei Jahrzehnten gefeiert. Zuletzt behandelten die auflagenstarken Sachbuchautoren Rüdiger Safranski und Alexander Demandt diese Thematik.

Berühmte Texte, die die Zeit-Thematik literarisch-fiktiv erfassen wollen, liegen durchaus vor. Stellvertretend ist Marcel Prousts Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu erwähnen. Daran kann der vielfach geehrte österreichische Autor Christoph Ransmayr anknüpfen, der seine eigene Zeit-Auseinandersetzung in fernen Regionen stattfinden läßt. Der englische Uhrmacher Alister Cox, talentiertester Vertreter der Berufsgruppe, der an den historisch verbürgten Zunftgenossen und Automatenbauer James Cox erinnert, folgt mit seinen Gefährten einer Einladung des Kaisers von China. Der gottgleiche Herrscher ist auf das Instrumentarium der Uhr angewiesen, kann doch das Leben in seinem Riesenreich nicht ohne Synchronismus verlaufen. Dabei sollen die Handwerker aus Europa den Faktor Relativität bei ihren Kreationen nicht unberücksichtigt lassen. Jeder empfindet die Zeit anders. Es existiert die Zeit für Liebende, für Sterbende, für Glückliche, für Trauernde und für viele andere. Für das Kind ist die Lebenszeit noch verhältnismäßig lang, für die zum Tode Verurteilten, die im Reich der Mitte in nicht geringer Zahl vorhanden sind, eher kurz. Die drakonischen Strafen bei kleinsten Vergehen spotten jeder Beschreibung. Die Schilderungen vieler derartiger Details machen die Könnerschaft des Erzählers Ransmayr aus, trotz aller seiner Grenzen. Alle Rituale drehen sind um die Huldigung des ersten Mannes im Reich. Immerhin hat der Tyrann nicht nur grausame Seiten, sondern pflegt eine Leidenschaft, ohne die es nicht zur Einladung der europäischen Reisegruppe gekommen wäre: Er sammelt alle möglichen Uhren von Tischuhren bis zu speziellen Sonnenuhren, und er trachtet danach, weitere solche Stücke für seinen persönlichen Schatz zu erwerben.

Der despotische Kaiser will Herr der Unendlichkeit sein

Doch läßt sich diese Unterschiedlichkeit der Zeitwahrnehmung in einer – noch so exzellenten – Apparatur versinnbildlichen? Das ist die große Frage. Ein herausragendes Bild der Kunst des 20. Jahrhunderts, Salvador Dalís „Beständigkeit der Erinnerung“, präsentiert zerrinnende Zeit und weiche Uhren. Cox Auftrag ist es, dem Verfliegen des menschlichen Lebens Einhalt zu gebieten.

Der „Herr der zehntausend Jahre“ gibt den Auftrag, die Ewigkeit zu vermessen. Sie ist allerdings auf einer anderen Ebene zu suchen als die Zeit. Das menschliche Leben ist kontingent und begrenzt, der Tod notwendig. Insofern mutet es wie eine klassische contradictio in adiecto an, so etwas wie Ewigkeit mehr als nur symbolisch darzustellen; und es ist auch nicht ungefährlich angesichts eines despotischen Regenten, der trotz der auf ihn gemünzten ultralangen Lebenszeit doch nur endlich wirken kann. Selbst er ist also nicht in der Lage, der Vergänglichkeit zu trotzen. Nicht einmal er kann auch nur eine Nanosekunde zurückholen, die bereits vergangen ist.

Dennoch will er Herr der Unendlichkeit sein, kein ganz neues Unterfangen in der Geschichte politischer Herrschaft seit den großen hochkulturellen Imperien des Ostens! Diese Situation verdeutlicht den Zwiespalt, in dem Cox sich befindet.

Zu den schönsten Passagen des Romans gehört die Schilderung jener Uhren (etwa einer Glutuhr oder einer barometrischen Uhr, die das Steigen und Fallen des Luftdrucks für einen verbleibenden Zeitraum von noch über vier Milliarden Jahren verdeutlicht), die die differenzierten Geschwindigkeiten der Zeit zum Vorschein bringen. Manche Uhrendarstellung ist so genau, daß man meinen könnte, der Leser solle sie nachbauen können. Am Ende blitzt ein krönendes Projekt auf: das des Perpetuum mobile. Es scheint die Möglichkeit durch, die ultimative Uhr zu bauen, die verschiedene Zeiten (und die Ewigkeit) messen kann. Die Energie für die Messung produziert die Apparatur selbst und trotzt auf diese Weise dem Energieerhaltungssatz.

Doch nicht nur die Zeitmessung spielt eine Rolle, weiter versteht es der Erzähler auch, die menschlichen Beziehungen zu erhellen. Immer wieder kommen in der Erinnerung Cox’ seine verstorbene Frau Faye und seine ebenfalls heimgegangene Tochter Abigail vor. Entsprechende Gedankengänge lockern den aufgrund der Reflexionen über Uhren manchmal nicht leicht nachzuvollziehenden Erzählfaden etwas auf.

Viele Sätze entpuppen sich als Sprechblasen

Mögen die Zeit und deren Messung auch ein interessantes literarisches Feld darstellen, so entpuppen sich viele Sätze Ransmayrs bei genauerem Hinsehen als Sprechblasen und geben nicht selten Belanglosigkeiten wieder. So heißt es an einer Stelle: „Es war Selbstmord, eine Uhr für die Ewigkeit zu bauen, eine Uhr, die ihre Stunden aus dem Inneren der Zeit in die Zeitlosigkeit schlug.“ Die Sprache wirkt streckenweise süßlich und altmodisch.

Doch wer Ransmayrs bisherige, meist sehr erfolgreiche Bücher kennt, weiß, daß sich irgendwo eine Geschichte hinter der Geschichte verbirgt. Cox’ Absicht ist es, den Tyrannen zu beeinflussen und ihn milde zu stimmen. Die Uhrenspielzeuge sind seine schwache Stelle und machen ihn vulnerabel. Vergleichbar damit ist es Absicht des Verfassers, die von ihm als kalt und unbarmherzig empfundene Welt durch seine Darlegungen wohnlicher, angenehmer, behaglicher zu machen. Es ist schwer zu entscheiden, ob ihm das mit „Cox“ gelungen ist.

Christoph Ransmayr: Cox oder der Lauf der Zeit. Roman, S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2016, gebunden, 304 Seiten, 22 Euro